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"Ein großer Wendepunkt in der britischen Geschichte": Theresa May auf dem "Evening Standard"

© AFP/Chris J. Ratcliffe

EU-Austritt Großbritanniens: Europa muss mit London hart verhandeln

Die EU ist nicht irgendein Verein. Das sollten Angela Merkel und ihre EU-Partner der britischen Regierung bei den Brexit-Verhandlungen klar machen - schon aus Eigeninteresse. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Albrecht Meier

Es ist eine menschliche Erfahrung, dass man gerade im Moment der Trennung noch einmal Rückschau auf das gemeinsame Leben mit dem bisherigen Partner hält. Dieser Moment war am Mittwoch in der Mittagsstunde in Brüssel gekommen, als der britische Botschafter Tim Barrow dem EU-Ratschef Donald Tusk den Antrag auf den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union überreichte.

Nicht zuletzt für die Babyboomer-Generation, die in Deutschland bei den regelmäßigen Pro-Europa-Demonstrationen stark vertreten ist, verbindet sich viel mit Großbritannien: der erste Schüleraustausch, die Entdeckung einer anderen Kultur, vielleicht sogar ein Studium auf der Insel.

Andererseits ist Trennungsschmerz kein Handlungsleitfaden für eine verantwortungsvolle Politik. Erstmals in der 60-jährigen Geschichte der Gemeinschaft wird ein Staat die Union aller Voraussicht nach verlassen – in den kommenden Jahren geht es sowohl für Großbritannien als auch für die verbleibenden 27 EU-Staaten darum, die Mammutaufgabe des Brexit zu bewältigen.

Seit dem britischen EU-Referendum, das anfangs wie ein Schock wirkte, sind inzwischen neun Monate vergangen. Die Verantwortlichen in Brüssel und in den Hauptstädten der EU-27 haben die Zeit genutzt, sich auf die bevorstehenden Trennungsgespräche vorzubereiten. Bis Ende 2018 soll ein Austrittsvertrag stehen. Anschließend müssen beide Seiten eine weitere Vereinbarung aushandeln, die die künftigen Handelsbeziehungen regelt.

Umfassende Vereinbarung gesucht

Was einfach klingt, ist in Wahrheit eine ungewöhnlich komplizierte Angelegenheit, die zudem noch das Alltagsleben von Millionen Bürgern betrifft. Was geschieht mit der sozialen Absicherung der Briten, die auf dem Kontinent leben? Welche Rechte haben EU-Bürger künftig auf der Insel? Das sind Fragen, mit denen die EU-Verhandler die Regierung in London gleich am Anfang der Gespräche konfrontieren werden. Auch der Streit um die offenen EU-Rechnungen der Briten wird bei den Gesprächen, die voraussichtlich im Mai beginnen, schnell auf die Tagesordnung kommen.

Deutschland und die übrigen 26 EU-Staaten streben eine umfassende Austrittsvereinbarung an, die keinen Raum mehr für Nachverhandlungen lässt. Die britische Regierung um Theresa May, die bisher vor allem mit sich selbst und dem politischen Kampf zwischen den Anhängern eines „harten“ und eines wirtschaftsfreundlicheren Brexit beschäftigt war, hat ihre Karten im Milliarden-Poker noch nicht aufgedeckt. Es drängt sich aber der Verdacht auf, dass vielen Verantwortlichen in London immer noch nicht bewusst ist, was es bedeutet, die seit dem britischen EU-Beitritt im Jahr 1973 gewachsenen rechtlichen und wirtschaftlichen Verbindungen wieder zu entflechten.

Bewährungsprobe für Theresa May

Allerdings werden die kommenden zwei Jahre wohl nicht nur zur Bewährungsprobe für Theresa May werden, sondern auch für den Zusammenhalt der EU-27. Aus gutem Grund haben diese EU-Staaten in ihrer Antwort auf den britischen Scheidungsantrag darauf hingewiesen, dass sie sich demnächst nicht auseinanderdividieren lassen wollen. Sie müssen alle miteinander in schwierigen Sitzungsrunden verhindern, dass London einen allzu vorteilhaften Deal erhält – und das Brexit-Beispiel woanders Schule macht. Apropos Brüsseler Verhandlungsnächte: Wehmut beschleicht einen schon, weil zwar auch künftig in der EU-Hauptstadt Englisch mit allerlei Akzenten gesprochen wird – aber ohne England.

Zumindest in ihrer organisatorischen Aufstellung sind die EU-27 dagegen gefeit, dass demnächst einzelne europäische Mitgliedstaaten auf die Idee kommen, Nebenabreden mit London zu treffen. In Brüssel laufen alle Fäden beim Chefverhandler der Kommission zusammen, dem Franzosen Michel Barnier – und das ist gut so.

Berlin hat ein Wörtchen mitzureden

Trotzdem wird auch Berlin in den kommenden zwei Jahren bei den Gesprächen in Brüssel ein gewichtiges Wort mitzureden haben. Die Bundesregierung hat es in der Hand, dass am Ende tatsächlich eine für alle Seiten tragbare Austrittsvereinbarung herauskommt. Das Motto für Bundeskanzlerin Angela Merkel sollte dabei lauten: Bei den unmittelbar bevorstehenden Gesprächen über Londons Exit wird es nicht um eine Bestrafung der Menschen im Vereinigten Königreich gehen.

Aber allzu großes Entgegenkommen wird auch nicht drin sein. Und über die endgültigen Details der künftigen Handelsbeziehungen zwischen der EU und Großbritannien – ein für die deutsche Exportindustrie entscheidendes Thema – wird ohnehin erst während der kommenden Dekade verhandelt.

Dass Deutschland und Großbritannien als Partner in der Nato oder bei den G20 miteinander verbunden bleiben, ist in diesen Tagen mehr als eine Nebensächlichkeit. Doch sobald Großbritannien die Europäische Union verlassen hat, wird sich die Basis für beide Seiten verändert haben. Denn die EU ist nicht irgendein Verein. Vielmehr hat sie unschätzbaren Wert, sei es bei der Personenfreizügigkeit oder dem freien Warenverkehr. Das dürfen die Briten bei den Verhandlungen ruhig erfahren. Bei aller Freundschaft.

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