zum Hauptinhalt
Seit dem Putschversuch vom 15. Juli hat der türkische Präsident Erdogan seine Macht ausgebaut.

© REUTERS

Die Türkei nach dem Putschversuch: Opposition spricht von "De-facto-Diktatur"

Die Unterdrückung von Regierungskritikern in der Türkei ruft die Oppositionspartei CHP auf den Plan - dabei hatte Präsident Erdogan nach dem Putschversuch eigentlich den Schulterschluss gesucht.

Im Parlament von Ankara sind noch immer die Spuren des Putschversuches vom 15. Juli zu sehen. Zwei Bomben trafen das Parlament, in einem Innenhof unweit des Plenarsaals hängen lose Stahlarmierungen herum – stumme Zeugen des verheerendsten Treffers. In der Putschnacht kamen im Plenarsaal seinerzeit 101 Abgeordnete von Regierung und Opposition zusammen, um ihren Widerstand gegen die Umstürzler zu bekunden. Doch die Einigkeit der Parlamentarier von damals ist längst dahin. Selin Sayek Böke, die Vizevorsitzende der größten Oppositionspartei CHP, sagte dem Tagesspiegel: „Jeder, der sich der Regierung entgegenstellt, befindet sich inzwischen in Gefahr.“ Durch den nach dem Putschversuch verhängten Notstand, so lautet ihr Vorwurf an die Adresse der Regierungspartei AKP, sei in der Türkei das „System einer De-facto-Diktatur“ errichtet worden.

Oppositionsvertreterin Sayek Böke beklagt "Hexenjagd"

Der Vorwurf richtet sich vor allem gegen Präsident Recep Tayyip Erdogan, der seit dem Putschversuch den Schulterschluss mit den bisherigen politischen Gegnern von Selin Sayek Bökes Mitte-Links-Partei CHP sucht. Der Burgfrieden ändert allerdings nichts an den den bisherigen Machtverhältnissen in der Türkei: Das Sagen hat allein Erdogans AKP.

Zwar bezweifelte auch die Oppositionsvertreterin Sayek Böke nicht, dass der „harte Kern“ der Putschisten aus den Reihen der Bewegung des Islampredigers Fethullah Gülen kam. Deswegen hält auch sie eine Zerschlagung des Gülen-Netzwerks für notwendig. Allerdings kreidet sie Erdogan an, bei der Verfolgung vermeintlicher Gülen-Anhänger eine „Hexenjagd“ auf sämtliche Regierungsgegner zu veranstalten.

Die AKP schleuste selbst Gülen-Vertreter in Schlüsselpositionen ein

Dabei ist die Regierungspartei AKP keineswegs unschuldig daran, dass die Gülen-Bewegung vor dem gescheiterten Militärcoup so mächtig werden und Schlüsselpositionen in der Armee, der Politik und der Justiz besetzen konnte. Ganz bewusst habe die AKP Gülen-Anhänger an Schaltstellen des Staates platziert, um die eigene Macht zu zementieren, sagte Sayek Böke. Das Bündnis der Anhänger des Predigers Gülen und der AKP hielt bis 2013, dann trennten sich die Wege wieder. „Bis heute gibt es keine offizielle parlamentarische Untersuchung zu der Frage, wie es zu dem Putschversuch kam“, beklagte die Vizechefin der CHP. Zwar beschlossen die Abgeordneten unmittelbar nach dem Putschversuch, ein Untersuchungsgremium einzusetzen – aber passiert ist seither wenig.

Zu denen, die angesichts des mangelnden Aufklärungswillens der Regierung frustriert sind, gehört Sayek Bökes Parteifreund Engin Altay. Wegen des Übergewichts der regierenden AKP in der geplanten parlamentarischen Untersuchungskommission müsse deren Unabhängigkeit ernsthaft in Frage gestellt werden, mutmaßte der stellvertretende Vorsitzende der CHP-Parlamentsfraktion.

Ausländische Vertreter geben sich in Ankara die Klinke in die Hand

Während in der türkischen Innenpolitik zwei Monate nach dem Putschversuch alte politische Fronten wieder aufbrechen, versucht der Westen, Versäumnisse aus der Nacht des 15. Juli wieder gutzumachen. Deutschland und andere Staaten hatten sich zunächst schwer damit getan, klare Worte zum gescheiterten Coup zu finden, der in der türkischen Bevölkerung auf eine einhellige Ablehnung gestoßen war. Inzwischen haben sich aber mehr als ein Dutzend ausländische Vertreter in Ankara die Klinke in die Hand gegeben. So wie es der britische Außenminister Boris Johnson in dieser Woche tat, machten sich auch andere Politiker vor Ort ein Bild von den Folgen der Bombennacht im Parlament. Johnson lobte bei seiner Visite in Ankara ausdrücklich die Vereitelung der Umsturzpläne.

Trotz derartiger Goodwill-Aktionen geben sich Vertreter der AKP nach wie vor enttäuscht angesichts der vom Westen geäußerten Kritik am harten Vorgehen gegen die Opposition. Die Vorwürfe seien überzogen gewesen, kritisierte Parlamentspräsident Ismail Kahraman. „Wie würden Europäer empfinden, wenn bei ihnen Armeeangehörige Panzer und Gewehre einsetzen würden, um ihre Parlamente anzugreifen?“, fragte Kahraman bei einer Begegnung mit Journalisten in Ankara.

Regierungskritiker: AKP stellt sich als Opfer dar

Regierungskritiker wie den Aleviten Gani Kaplan überraschen solche rhetorische Fragen von AKP-Leuten nicht. Bereits vor dem Putsch wurde in den türkischen Medien ein uniformes „Opferbild der AKP gezeichnet“, sagte er. Zudem hält er es für undenkbar, dass das nach dem Putschversuch entstandene Bündnis zwischen der AKP und der sozialdemokratischen CHP von Dauer sein kann. „Als Regierung und Opposition Anfang August zu einer großen Demonstration in Istanbul zusammenkamen, roch es schon nach einer baldigen Scheidung“, sagte Kaplan.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false