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17. Juni 1991: Der polnische Ministerpräsident Krzystof Bielecki (l.) und Bundeskanzler Helmut Kohl unterzeichnen den Vertrag "über gute Nachbarschaft".

© Michael Jung/dpa

Deutschland und Polen: Sind wir noch gute Nachbarn?

Die "Silberhochzeit" fällt zusammen mit einer Beziehungskrise. Vor 25 Jahren schlossen Deutschland und Polen den Vertrag über gute Nachbarschaft. Aktuell überprüft die EU Rechtsstaat und Demokratie in Polen.

Die Qualität einer Nachbarschaft zeigt sich im Alltag. Und darin, wie der sich über die Jahre entwickelt. Städte an Oder und Neiße, die seit dem Zweiten Weltkrieg durch eine Grenze geteilt sind, haben heute wieder gemeinsame kommunale Versorger und Entsorger – obwohl sie in verschiedenen Staaten liegen und damit unterschiedlichem nationalen Recht unterliegen. Das deutsche Guben und das polnische Gubin, zum Beispiel, betreiben eine gemeinsame Kläranlage. Tausende polnische und deutsche Kinder sind mittlerweile gemeinsam auf deutsch-polnische Schulen gegangen, im Grenzgebiet, aber auch im 70 Kilometer entfernten Berlin, wo weitsichtige Menschen bereits vor Polens EU-Beitritt solche zweisprachigen Europaschulen gegründet haben.

Gesellschaftlicher Wandel braucht Pioniere. Mutige Persönlichkeiten weisen den Weg, um Völker nach Streit – oder gar Krieg – miteinander zu versöhnen. In der Geschichte haben oft Politiker diese Rolle ausgefüllt. Wenn in diesen Tagen jedoch Polen und Deutsche auf die 25 Jahre seit der Unterzeichnung des Vertrags über gute Nachbarschaft vom 17. Juni 1991 zurückblicken, dann springt ins Auge, dass es auch Phasen mit umgekehrter Rollenverteilung gibt: Die Menschen leben die Nachbarschaft, die Politik fällt zurück.

Oberflächlich wahren die deutsche und polnische Regierung den schönen Schein guter Nachbarschaft. Der EM-Spielplan hilft dabei. Am 16. Juni, dem Tag vor dem Vertragsjubiläum, spielen Deutschland und Polen gegeneinander. Präsident Andrzej Duda kommt an diesem Donnerstag nach Berlin, tags drauf macht Joachim Gauck den Gegenbesuch in Warschau.

Die PiS-Partei stellt den bisher proeuropäischen Kurs Polens infrage

In Wahrheit ist die Partnerschaft in einer Krise, jedenfalls politisch. Die nationalkonservative Partei PiS hat bei der Parlamentswahl im Oktober 2015 die absolute Mehrheit im Sejm erzielt: mit 37,6 Prozent der abgegebenen Stimmen bei 51 Prozent Wahlbeteiligung. Sie nutzt diese Macht, erstens, um den proeuropäischen Integrationskurs ihrer Vorgänger infrage zu stellen. Sie will die nationale Eigenständigkeit stärker hervorheben und tut so, als müsse sie Polens Interessen gegen Vorhaben der EU und des großen Nachbarn Deutschland verteidigen, die Polen angeblich Schaden zufügen. Zweitens versucht sie aus Gründen des langfristigen Machterhalts Regeln der Gewaltenteilung im demokratischen Rechtsstaat und Grundfreiheiten einzuschränken. Sie will sich die Gerichtsbarkeit und die Massenmedien unterordnen. Sie erkennt Urteile des Verfassungstribunals nicht an und bemüht sich, den öffentlichen Rundfunk durch eine einseitige Personalpolitik zu einem Propagandainstrument zu machen.

Die Bundesregierung hat sich entschieden, nicht zu den ersten und den lautesten öffentlichen Kritikern dieses Vorgehens zu gehören. Sie überlässt das den europäischen Institutionen, die ein Überprüfungsverfahren gegen Polen eingeleitet haben, sowie den USA, die vor dem Nato-Gipfel in Warschau über erhebliches Druckpotenzial verfügen. Die deutsche Zurückhaltung ist klug. Die Bundesregierung will der PiS und ihrem Strippenzieher, "Präses" Jaroslaw Kaczynski, keinen Vorwand für antideutsche Stimmungsmache liefern.

Die Krise lenkt zugleich den Blick darauf, was Deutsche und Polen in den 25 Jahren seit dem Nachbarschaftsvertrag und den zwölf Jahren seit Polens EU-Beitritt an Fortschritten erreicht haben, trotz der historischen Belastungen. Und was nun wieder infrage steht, wenn der weitere Wille zu gemeinsamem Vorgehen plötzlich nachlässt.

Studenten der Europa-Universität Viadrina studieren selbstverständlich auf beiden Seiten der Grenze, in Frankfurt an der Oder und auf der anderen Seite der Stadtbrücke am Collegium Polonicum in Slubice. Hunderttausende Bürger nutzen die jeweiligen Preis- und Standortvorteile rechts und links der Grenze. Lebensmittel, Gartenbedarf, Handwerker, auch Dienstleistungen wie der Zahnarzt sind in Polen preiswerter. Elektronik, Schuhe, Baumarktartikel sind auf der deutschen Seite günstiger. Der Einkaufstourismus bringt vielfache Begegnung und den Abbau von Vorurteilen mit sich. Er führt auch zu vermehrtem Beratungsbedarf bei den Verbraucherschützern. Sie haben längst doppelte Kundschaft, Polen und Deutsche.

Vereinzelt laufen in Grenzstädten deutsche und polnische Polizisten gemeinsam Streife. Dies ist ein schwieriges Feld geblieben. Polizeidienste zählen zu den nationalen Hoheitsaufgaben. Kompromisse bei den Vorschriften sind kaum möglich.

In Bad Muskau und Leknica ist der von Fürst Pückler gestaltete Landschaftspark, den der Grenzfluss Neiße über Jahrzehnte zerschnitten hatte, heute wieder als einheitliches Kulturdenkmal erlebbar. Jeden Mai zieht die Rhododendronblüte Zehntausende dorthin. Im Naturschutzpark Unteres Odertal kümmern sich deutsche und polnische Naturschützer gemeinsam um die Bewahrung einer der wenigen noch ziemlich urwüchsigen Flusslandschaften in Mitteleuropa.

Die heutige Normalität grenzt an ein Wunder

Im Rückblick wirkt es wie ein kleines Wunder, was da an Normalität in nur 25 Jahren gewachsen ist. Nicht nur weil die Siegermächte nach dem verbrecherischen Krieg der Nazis in Jalta und Potsdam neue Grenzen gezogen hatten, die über vier Jahrzehnte wirklich trennten. Hinzu kamen die Folgen der Bevölkerungsverschiebung. Die Menschen, die Polens neue Westgebiete besiedelten, hatten keine Erfahrungen mit deutschen Nachbarn. Sie kamen zum Großteil aus Polens Ostgebieten, die an die Sowjetunion fielen. Sie hatten ihre alte Heimat verlassen müssen. Und die Menschen auf der DDR-Seite von Oder und Neiße waren auch keine gelernten Grenzlandbewohner. Die Regionen, wo sie lebten, hatten vor dem Krieg mitten im Deutschen Reich gelegen.

Zum Glück mussten Polens erster demokratisch gewählter Regierungschef Tadeusz Mazowiecki und Kanzler Helmut Kohl nicht bei null anfangen, als sie die so lange vernachlässigte Nachbarschaft nach der Freiheitsrevolution von 1989 auf einen neuen Weg brachten. Signale der Versöhnungsbereitschaft hatte es nach dem Krieg mehrfach gegeben, aus der Mitte beider Völker. Meist hatten die Kirchen den Anstoß gegeben. Dazu gehören die Ostdenkschrift der EKD von 1965 und der Briefwechsel der katholischen Bischöfe von 1966. Auch ein Teil der Heimatvertriebenen gehörte zu den Wegbahnern. In ihrer Charta von 1950 forderten sie zwar ein Recht auf Heimat, wandten sich aber bereits früh gegen Rache und Vergeltung und entzogen so revanchistischen Bewegungen einen Teil des Unterstützerpotenzials. Die Bundesregierung erklärte im Warschauer Vertrag 1970 eine indirekte Anerkennung der neuen Grenze durch den Gewaltverzicht. Die DDR hatte die Oder-Neiße-Grenze 1950 anerkannt.

Wie ungewohnt der neue Umgang mit der geografischen Nähe 1990/91 war und wie revolutionär das Bemühen, sie aus vollem Herzen zu einer guten Nachbarschaft und verlässlichen Partnerschaft zu entwickeln, kann man den Bildern von damals entnehmen. Die Umarmung von Tadeusz Mazowiecki und Helmut Kohl bei der Versöhnungsmesse in Kreisau am 12. November 1989 wirkte steif – nicht nur wegen ihrer unterschiedlichen Körpersprache. Bei Gesprächen im kleinen Kreis hat der hagere, gebeugte und oft ein wenig melancholisch blickende Mazowiecki später unter schelmischem Lachen pantomimisch nachgeahmt, welche Herausforderung es trotz seiner langen Arme war, Kohl in seiner Leibesfülle zu umfassen. Kohls Begegnung mit dem Nachfolger Jan Krzysztof Bielecki, einem Wirtschaftsliberalen, bei der Unterzeichnung des Nachbarschaftsvertrags 1991 wirkt geschäftsmäßig freundlich, aber nicht innig.

Nach deutsch-französischem Vorbild gab es von da an Institutionen, die die weitere Annäherung befördern: zum Beispiel ein Jugendwerk für den Austausch der jungen Generationen. Die Zahl der Schul- und Städtepartnerschaften wuchs. Die Verkehrswege wurden aus-, die Grenzbarrieren abgebaut. Mitunter kam es zu Rückschlägen und Mini-Krisen wie 1995 der Schwarzarbeiterrazzia in Frankfurt an der Oder mit Schäferhunden, die manche polnische Medien zu vorwurfsvollen Schlagzeilen veranlassten: "Es war wie in Auschwitz".

Die Bundesregierung kann sich ihren Partner in Warschau nicht aussuchen

Alles in allem aber wuchs in diesen Jahren Nachbarschaft. Langsam schwand auch die Befangenheit bei den Treffen der Politik, wurden die Gesten natürlicher und selbstverständlicher. Da Polen bis 1997 fast jährlich den Premier auswechselte – erst der Protestant Jerzy Buzek schaffte vier Jahre und Kontinuität –, konnten anfangs auch keine langfristigen persönlichen Beziehungen zum Kanzler wachsen. Polens Präsident Aleksander Kwasniewski, ein Ex-Kommunist, wurde zum verlässlichsten Garanten und Antreiber der guten Nachbarschaft in Warschau. 1999 trat Polen der Nato bei, 2004 der EU. Polen und Deutschland, so sah das damals aus, waren nicht nur formal Alliierte. Sie haben ihre Schicksale bewusst miteinander verbunden. Sie bilden eine strategische Interessengemeinschaft, ganz ähnlich wie Deutschland und Frankreich im Westen.

Als Kwasniewskis Amtszeit 2005 endete, kam die PiS erstmals an die Regierung. Eine Vorwarnung, welche Folgen eine Reduzierung an gutem Willen für die Nachbarschaft haben kann. Sie verlor die Macht nach zwei Jahren wieder. Nun wiederholt sich die Herausforderung, nur diesmal vehementer. Die Bundesregierung kann sich ihren Partner in Warschau nicht aussuchen. Aber sie kann für ihre Sicht werben: Die breite Partnerschaft ist ein Wert an sich. Sie kann Polen die Vorteile aufzeigen, ohne mit Strafe zu drohen. Und sie kann die Regierungskonsultationen dazu nutzen, gemeinsame Projekte voranzutreiben, die nicht in Kollision mit dem Weltbild der PiS geraten.

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