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In London ist nun davon die Rede, man wolle keine „direkte Rechtsprechung“ des EuGH in Großbritannien mehr.

© Justin Tallis/AFP

Der Europäische Gerichtshof und der Brexit: Luxemburg ist nicht weit von London

Die nächste Wendung im Brexit-Theater: London gibt sich flexibel in juristischen Fragen. Der Europäische Gerichtshof dürfte für Großbritannien noch lange Bedeutung haben.

Bisher klang Theresa May ganz klar, eindeutig und unmissverständlich: „Wir werden die Kontrolle über unsere Gesetze zurückbekommen“, sagte die britische Premierministerin über den Brexit, „und wir werden die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in Großbritannien zu einem Ende bringen.“ Der EuGH in Luxemburg ist vor allem dem Hardliner-Flügel der britischen Konservativen ein Dorn im Auge, ein Symbol für fehlende nationale Souveränität. Am Mittwoch hat das britische Ministerium für den EU-Austritt ein weiteres Papier in einer ganzen Serie veröffentlicht, in dem es um die künftigen Rechtsbeziehungen zwischen der EU und Großbritannien geht. Und siehe da: London klingt nicht mehr ganz so eindeutig, klar und unmissverständlich. Durchweg ist nun davon die Rede, man wolle keine „direkte Rechtsprechung“ des EuGH in Großbritannien mehr. Bisher reagierte man in Brüssel reserviert auf die neue Offensive in London.

Hinter dem neuen Papier (und im Kern auch den anderen Positionierungen der Briten) steckt einmal mehr die Erkenntnis, dass das Abbrechen der Brücken zur EU so einfach nicht ist – und der Wunsch, einen ganz harten Brexit zu vermeiden. Denn der Europäische Gerichtshof und seine Rechtsprechung dürften für Großbritannien noch jahrzehntelang von Bedeutung sein. Das hat einen Grund darin, dass die Briten das gesamte EU-Recht nach dem Austritt zunächst einmal als nationales Recht fortgelten lassen. Manche Regeln werden schon bald oder auch erst mit der Zeit durch das britische Parlament verändert, eine Vielzahl an Vorschriften aber dürfte bestehen bleiben. Das Fortgelten von EU-Recht (im nationalen Mäntelchen) aber bedeutet, dass EuGH-Entscheidungen möglicherweise aus ganz pragmatischen Erwägungen übernommen werden müssen durch eine kleine Gesetzesänderung auch in Westminster (wie auch Entscheidungen des Europäischen Parlaments). Oder aber, dass ein britisches Gericht sich veranlasst sieht, bei einem Rechtsstreit, der sich um übernommenes EU-Recht dreht, einmal nachzuschauen, was denn der EuGH dazu sagt, auch wenn man Fälle nicht mehr nach Luxemburg überweisen kann.

Konfliktregelung muss sein

Der andere Grund, warum der EuGH indirekt auch künftig mitspielen wird: Großbritannien will, abseits aller Brexit-Rhetorik, eine möglichst enge Bindung an die EU bewahren. Zwar sagt die Regierung in ihrem Papier, dass man für Privatleute und Unternehmen eine konsequente Trennung der Rechtssysteme anpeilt. Aber für das internationale Recht, und damit auch für die künftige Konfliktregelung zwischen der EU und Großbritannien, gilt das nur eingeschränkt, je nachdem, wie das Verhältnis aussieht. Und hier kommt wieder der Europäische Gerichtshof ins Spiel. Denn je enger sich das Vereinigte Königreich an Binnenmarkt und Zollunion der EU beteiligen will, umso stärker wird die Rolle des Gerichtshofs sein.

In dem Papier wird eine Reihe von Möglichkeiten für Konfliktregelung genannt, aber eine sticht ins Auge: eine Vereinbarung ähnlich der zwischen der EU und den Ländern der Europäischen Freihandelsassoziation (Efta), die sich über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) in den EU-Binnenmarkt integriert haben – und damit quasi EU-Mitglied sind, ohne in Brüssel politisch vertreten zu sein. Das sind Norwegen, Island und Liechtenstein. Für sie gibt es einen eigenen Efta-Gerichtshof. Damit hat der EU-Binnenmarkt sozusagen zwei oberste Gerichte, ein großes und ein kleines, die sich aber bemühen, eine möglichst einheitliche Rechtsprechung zu wahren. Oder wie der britische Justiz-Staatsminister Dominic Raab am Mittwoch in Anspielung auf eine mögliche Vereinbarung zwischen EU und UK sagte, „ein halbes Auge aufeinander werfen“. Praktisch heißt das jedoch: EuGH-Entscheidungen sind für Norwegen, Island und Liechtenstein indirekt trotz des eigenen Efta-Gerichtshofs ausschlaggebend, weil das kleine Gericht dem großen weitgehend folgt.

Keine Norwegen-Lösung, aber so ähnlich...

Da Großbritannien wohl kaum der Efta und dem EWR beitritt (diese „Norwegen-Lösung“ hat May kategorisch ausgeschlossen), bleibt als Lösung nur, dass sich London einen gemeinsamen Gerichtshof vorstellen kann, der die Rechtsprechung des EuGH verfolgt und sich an ihr orientiert. Indirekt wäre die Rechtsprechung des EuGH somit für Großbritannien auch hier künftig relevant. Bill Cash, einer der Brexit-Hardliner in der Tory-Partei, sagt: „Das Efta-Modell hat den großen Vorteil, dass es völlig unabhängig ist von der EU, aber den Entscheidungen des EuGH meistens folgt, wenn auch nicht immer.“ Anders gesagt: Das Efta-Modell hat aus Sicht der britischen Konservativen den Vorteil, der eigenen Bevölkerung den Brexit weiterhin vorgaukeln zu können und die tatsächliche Absicht der weiterhin engen Anbindung an die EU zu verschleiern. Kenneth Armstrong, Rechtsprofessor in Cambridge und Experte für EU-Recht, kommentierte die neue Wendung im Brexit-Spiel auf Twitter mit der Frage: „Ab wann bringt das Ziel der britischen Regierung, eine Schattenmitgliedschaft in der EU zu schaffen, die Leute dazu, sich zu fragen, welchen Wert der Brexit wirklich hat?“

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