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Eine Deutschland-Fahne flattert an einem Auto (Archivbild von 2010).

© dpa/Fabian Bimmer

Debatte um Leitkultur: Antreten zum Integrieren!

Was ist deutsch? Der Innenminister schreibt über die Regeln der Leitkultur und will so Toleranz stärken. Doch seine Vorschläge sind verlogen und bewirken das Gegenteil. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Kai Biermann

In der "Bild am Sonntag" schreibt der Bundesinnenminister einen Beitrag mit zehn Thesen "über eine Leitkultur für Deutschland". Warum tut er das? Will er den vielen Neuangekommenen helfen, Deutschland zu verstehen? Will er ihnen zeigen, dass sie hier willkommen sind, dass sie sich und ihre kulturellen Erfahrungen hier einbringen können? Will er ihnen Mut machen, dass sie sich hier ein Leben aufbauen können? Schrieb er den Text vielleicht, weil er darüber diskutieren möchte, welche Werte anderer Kulturen auch Deutschland und den Deutschen gut zu Gesicht stehen würden? Will er debattieren, was die deutsche Kultur überhaupt ausmacht?

Nein, das will er nicht. Der Bundesinnenminister hat den Text geschrieben, weil im September ein neuer Bundestag gewählt werden soll und der CDU-Minister sich vor der AfD fürchtet. Er hat ihn geschrieben, weil CDU, CSU und AfD sich das Wort Leitkultur in ihre Parteiprogramme gedruckt haben. Er hat ihn geschrieben, weil er glaubt, dass mehr Menschen, mehr Deutsche, seine CDU wählen werden, wenn er ein wenig über das Deutschsein philosophiert. Es ist zum Heulen.

Die Diskussion um die sogenannte Leitkultur hat in Deutschland bislang nur Wut und Zwist provoziert. Dieses Wort und dieser Streit haben in den vergangenen 20 Jahren niemandem genutzt, sie haben keine Menschen miteinander versöhnt, sie haben niemanden integriert, keinen kulturellen Fortschritt gebracht. Die sogenannte Leitkultur dient allein dazu, auszuschließen: Wir hier sind so – ihr da hinten seid es nicht. Wir haben – ihr nicht. Wer immer in den vergangenen Jahren von "Leitkultur" sprach, hat damit Gräben geschaufelt, statt sie zuzuschütten. Und genau das tut auch Thomas de Maizière.

Er möchte die "ungeschriebenen Regeln unseres Zusammenlebens" beschreiben und sie diskutieren, wie er mehrmals betont. Doch keine dieser Regeln stellt er dabei infrage. Wir haben, wir sind, wir legen Wert auf – so beginnen seine Sätze. Dabei könnten manche seiner Regeln es durchaus vertragen, infrage gestellt zu werden.

Der "Leistungsgedanke" beispielsweise, den de Maizière als dritten Punkt für typisch deutsch und für erhaltens- und fördernswert befindet. Sind es aber nicht gerade die Folgen dieser bedingungslosen Leistungsgesellschaft, die das Zusammenleben zerstören und die Integration verschiedener gesellschaftlicher Schichten verhindern? Ist der sogenannte Leistungsgedanke nicht nur eine heuchlerische Rechtfertigung für die enormen sozialen Unterschiede? Immerhin hat Deutschland ein Bildungssystem, das eben nicht Leistung fördert, sondern vor allem soziale Herkunft.

Oder der "aufgeklärte" Patriotismus, den de Maizière sich erträumt. Gibt es den in Deutschland überhaupt? "Ja, wir hatten Probleme mit unserem Patriotismus. Mal wurde er zum Nationalismus, mal trauten sich viele nicht, sich zu Deutschland zu bekennen", schreibt der Innenminister. Sinngemäß könnte man diese Worte auch übersetzen mit: Ja, wir hatten Probleme, mal waren wir Massenmörder, mal war uns das dann peinlich. Eine ziemlich verharmlosende Sicht auf die deutsche Geschichte. 

Doch auch die Gegenwart gibt wenig Hoffnung. Diejenigen, die sich hier Patrioten nennen, beschimpfen auf Demos die Bundeskanzlerin und andere Politiker mit den schmähendsten Begriffen, die ihnen so einfallen – weil sie Flüchtlingen eine Heimat geben wollten. Oder sie forderneinen "Ethnopluralismus", der nichts weiter ist als der Wunsch, alle Fremden aus dem Land zu verbannen.

Mit seinem Text versucht de Maizière, eine homogene, geschlossene Kultur zu beschreiben, ja sie zu konstruieren. Dabei gibt es diese gar nicht. Arm und Reich sind sich gegenseitig im Denken und Fühlen schon so fremd, dass es mühsam ist, zwischen ihnen kulturell Gemeinsames zu entdecken. Gleichzeitig ignoriert der Text vieles, das hierzulande tatsächlich unselige Kultur ist.

Müssen Muslime nun schießen und rasen lernen?

Waffen beispielsweise. Die sind wichtig in und für Deutschland. Für die Industrie, für das Brauchtum, für den Sport, für das nationale Selbstbewusstsein. Müssen Muslime in Schützenvereine eintreten, um echte Deutsche zu werden? Kein Wort dazu vom Innenminister.

Oder unbeschränktes Rasen auf der Autobahn. Wenn etwas typisch deutsch ist, dann die Lichthupe, die jeden beiseite drängelt, der nicht todesmutig die letzten PS aus seinem Auto herausholt. Nirgendwo sonst in Europa gibt es das, die halbe Welt hält die Deutschen deswegen für völlig bescheuert. Ein Skandal sei es, schrieb vor kurzem Thomas Gsella, dass Autofahrer in Deutschland alle anderen "mit eben jenem Tod bedrohen, dem sie johlend entgegenrasen". Müssen muslimische Frauen also nicht nur das Autofahren lernen, sondern auch das selbstmordattentatische Rasen, wenn sie integriert sein wollen?

Ja, der letzte Satz war polemisch. Die Debatte um eine wie auch immer geartete Leitkultur ist es auch, sie ist verlogen und verbogen. 

Schon in Punkt eins seiner Thesen zeigt sich die Vermischung von kulturellen, gesetzlichen und politischen Vorstellungen, die nichts mit einer Kultur zu tun haben und deren Aneinanderreihung allein der populistischen Debatte geschuldet sind. De Maizière schreibt: "Wir legen Wert auf soziale Gewohnheiten (…), weil sie Ausdruck einer bestimmten Haltung sind: Wir sagen unseren Namen. Wir geben uns zur Begrüßung die Hand. Bei Demonstrationen haben wir ein Vermummungsverbot."

Was für eine Liste. Überall auf der Welt ist es üblich, zur Begrüßung seinen Namen zu nennen. Der Satz schaffte es wohl allein deswegen in die Aufzählung, um eine Überleitung zu den nächsten beiden zu haben. Denn um die geht es dem Minister. Dabei ist das mit dem Händeschütteln längst nicht so einfach. An vielen Orten der Welt werden fremde Hände aus guten Gründen nicht gedrückt. Immerhin werden auf diesem Weg diverse Krankheiten übertragen. Donald Trump macht außerdem gerade vor, welche Gewalt und welche Aggression im Händedrücken oder im Verweigern desselben liegen können. Händeschütteln als kulturellen Wert zu fordern, löst kein einziges Problem. Wer möchte schon gezwungen werden, jemandes feuchte, labberige Hand anzufassen oder sich die eigene Pfote von einem Grobian zerquetschen zu lassen? Wäre es nicht besser, eine innerislamische Debatte zu fördern, ob manche Regeln wirklich noch zeitgemäß sind? 

Alle Muslime "sind Burka"?

Schließlich die Burka. Um die geht es de Maizière vor allem. An Burka und Nikab entzündet sich die Wut um kulturelle und religiöse Unterschiede, weil sie so auffällig und hierzulande so fremd sind. "Wir sind nicht Burka", schreibt der Innenminister als Schlussfolgerung aus Händeschütteln und Vermummungsverbot. Ganz so, als seien alle Muslime Burka. Was für ein gemeiner Unsinn. Die Schleier Burka und Nikab sind in Deutschland so selten, dass sie im Straßenbild keine Rolle spielen. Die meisten Muslime lehnen sie ab. Dass Christen ihnen nun aber per Gesetz Kleidungsvorschriften machen, verschlimmert den kulturellen Streit jedoch, statt ihn zu schlichten.

Der Innenminister begründet seinen Satz noch dazu mit einem Verbot, das einen ganz anderen Hintergrund hat. Auf Demonstrationen darf sich hierzulande niemand vermummen, damit der Staat jeden Teilnehmer identifizieren kann. Mit Religion und Kultur hat das nichts zu tun, nur mit staatlichen Überwachungsbedürfnissen und Strafverfolgung. Das Vermummungsverbot soll Leitkultur sein? Nun, es gibt durchaus Menschen hier, die es für eine Bedrohung der Demokratie und der Freiheit halten. 

Hier spricht offensichtlich der oberste Ermittler des Landes. Dabei ist der Innenminister qua Amt auch der oberste Hüter der inneren Ordnung. Schaut man sich die unzähligen Übergriffe auf Flüchtlinge, die Brandanschläge und Mordversuche in den vergangenen Jahren an, scheint aber genau diese innere Ordnung bedroht. Viele der selbst ernannten Patrioten reden bereits vom Bürgerkrieg, ja sie sehnen sich einen solchen Krieg zwischen den Kulturen geradezu herbei. Statt aber für gesellschaftlichen Frieden zu sorgen, schleppt Thomas de Maiziére aus wahltaktischen Erwägungen noch Benzinkanister zu dem längst schon lodernden Feuer. 

Nebenbei: Es gibt eine Leitkultur in Deutschland, sogar mit geschriebenen Regeln und nicht mit ungeschriebenen. Wir nennen sie Grundgesetz. Doch eben jenes zitiert de Maizière nicht. Wohl weil sich über ungeschriebene Regeln viel besser polemisieren lässt. 

Dieser Kommentar von Kai Biermann wurde zuerst bei "Zeit Online" veröffentlicht.

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