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Cem Özdemir, Bundesvorsitzender der Partei Bündnis 90/Die Grünen

© Thilo Rückeis

Cem Özdemir im Interview: "Man braucht ein verdammt dickes Fell für diesen Job"

Grünen-Chef Cem Özdemir über die Entwicklung der Türkei zur Diktatur, missratene Steuerwahlkämpfe und seine Diplomatenrolle in der Partei.

Herr Özdemir, niemand ist frei von Eitelkeit, Spitzenpolitiker schon gar nicht. Wie schwer fällt es Ihnen, die eigene Eitelkeit im Zaum zu halten?

Wir wären alle nicht in der Politik, wenn wir nicht das Gefühl hätten, es besser machen zu wollen. Und menschenscheu sollte man auch nicht sein. Aber ich hoffe, dass ich meine Eitelkeit ganz gut im Griff habe.

Parteifreunde von Ihnen erzählen, Sie liefen mit vor Stolz geschwellter Brust herum, weil Sie im Politikerranking mittlerweile auf den vorderen Plätzen landen. Was für ein Gefühl ist es, beliebt zu sein?

Natürlich freut mich das. Stolz ist aber das falsche Wort. Ich empfinde Dankbarkeit. Wenn jemand meinen Eltern prognostiziert hätte, dass ihr Sohn, der in der ersten Klasse beinahe sitzengeblieben wäre und der nach der vierten Klasse die Schulempfehlung Hauptschule hatte, heute Vorsitzender einer deutschen Partei ist, hätten sie es nicht geglaubt. Ich selbst auch nicht. Ich habe nicht vergessen, wo ich herkomme. Und ich weiß, wie flüchtig das alles sein kann.

Sie sind nicht nur einer der bekanntesten Grünen-Politiker, sondern auch derjenige, der am längsten an der Parteispitze ist. Braucht man einen besonderen Durchhaltewillen?

Auf Schwäbisch sagt man, man braucht eine „Saukuttel“. Auf Hochdeutsch: Man braucht ein verdammt dickes Fell für diesen Job. Ich habe gelernt, nicht alles persönlich zu nehmen.

Sie sind ein Teamspieler oder doch eher eine Ich-AG, wie Ihre Ko-Vorsitzende Simone Peter beklagt?

Meine langjährige Ko-Vorsitzende Claudia Roth ist bekanntlich sehr meinungsstark. Trotzdem haben wir es immer wieder geschafft, uns zusammenzuraufen. Das geht in einer Doppelspitze auf Dauer auch nicht anders. Gerade in einem Wahljahr ist Geschlossenheit wichtig. Das haben sicher alle Beteiligten verstanden.

Muss man ab und an den Alleingang wagen, um voranzukommen?

Zum Job eines Parteivorsitzenden gehört, dass man nicht immer nur sagt, was alle von einem hören wollen. Wenn es an die Grundüberzeugungen geht, muss man seine Meinung auch aussprechen. Meistens sind wir – sei es im Bundesvorstand oder auch auf Parteitagen – doch ziemlich einig.

Alleingänge waren Joschka Fischers Methode, um die Grünen im Bund regierungsfähig zu machen. Was haben Sie persönlich von ihm gelernt?

Die Saukutteln. Fischer hat mir mal empfohlen, robuster zu werden. Er fand, dass ich zu viel an mich heranlasse. Außerdem habe ich von ihm gelernt, dass es eine Kunst ist, so zu reden, dass man auch verstanden wird. Auf Parteitagen sollten wir viel öfter nicht nur von Grün zu Grün reden, sondern uns immer bewusst sein, dass da draußen eine Gesellschaft ist, die wir erreichen wollen.

Wie steht es mit Ihrer Fähigkeit zum Kompromiss?

Schauen Sie sich die letzten Parteitage an. Da war ich an etlichen Kompromissen beteiligt. Und das auch bei schwierigen Themen wie der Asylpolitik und den sicheren Herkunftsstaaten.

Wie kann es denn sein, dass die beiden Parteivorsitzenden es nicht geschafft haben, vor dem Parteitag einen Kompromiss zum Thema Vermögensteuer zu finden?

Ich bedauere das sehr. Auch, dass es unserer Steuerkommission in zwei Jahren nicht gelungen ist, eine gemeinsame Linie zu finden. Es hat aber sicherlich auch damit zu tun, dass gerade Urwahl ist und manche sich sehr früh festgelegt haben und jetzt davon nicht mehr wegkommen.

Sich nicht immer grün: Die Grünen-Bundesvorsitzenden Simone Peter und Cem Özdemir müssen trotzdem zusammen Wahlkampf gegen SPD und CDU machen.
Sich nicht immer grün: Die Grünen-Bundesvorsitzenden Simone Peter und Cem Özdemir müssen trotzdem zusammen Wahlkampf gegen SPD und CDU machen.

© Sebastian Gollnow/dpa

Muss am Ende des Parteitags ein klares Ja oder Nein zur Vermögensteuer stehen?

Ich habe die Suche nach einem Kompromiss keineswegs aufgegeben. Die Realos werden akzeptieren müssen, dass das Wort Vermögensteuer in unserem Gerechtigkeitsantrag vorkommt. Meinen Freunden vom linken Flügel sage ich aber auch, dass sie kein Interesse daran haben können, dass es am Ende Sieger und Verlierer gibt. Wir sollten uns nicht über die Vermögensteuer zerlegen.

Was haben Sie eigentlich gegen die Vermögensteuer?

Ich bin auch sehr dafür, dass die besonders Vermögenden sich an der Finanzierung des Gemeinwesens stärker beteiligen. Wir müssen aber aufpassen, dass wir den mittelständischen Betrieben nicht jährlich das Kapital wegbesteuern, das sie für die ökologische Modernisierung nutzen sollen.

Mit der Forderung nach Steuererhöhungen sind Sie im Wahlkampf schon einmal baden gegangen. Warum sollte das dieses Mal anders sein?

Aus dem Wahlkampf 2013 haben hoffentlich alle gelernt, dass wir die Frage der Instrumente nicht in den Mittelpunkt stellen sollten. Ich rate davon ab, dass wir uns apodiktisch auf die Vermögensteuer festlegen, wir sollten auch offen für andere Varianten bleiben. Beim Ziel, das reichste Prozent stärker zu besteuern, sind wir uns ja völlig einig. Wir sollten aber nicht schon wieder einen Wahlkampf führen, bei dem wir jedem Einzelnen erklären müssen, dass er nicht gemeint ist.

Wenn die Grünen aus der Zehn-Prozent-Nische herauskommen wollen, wie wirtschaftsfreundlich müssen sie dann sein?

Es geht nicht um Wirtschaftsfreundlichkeit. Natürlich fahren wir auch harte Konflikte mit der Wirtschaft. Es werden nicht alle Hurra schreien, wenn wir die Kohlekraftwerke nach und nach abschalten und auf eine dezentralere Energieversorgung umsteigen. Da werden die traditionellen Anbieter sich bedroht fühlen. Umso wichtiger ist es aber, dass wir mit denen reden.

Auf dem Parteitag der Grünen in einer Woche wird Daimler-Chef Dieter Zetsche reden. Das passt einigen Grünen nicht. Kuscheln Sie schon zu sehr mit der Wirtschaft?

Davon kann keine Rede sein. Das ist doch klasse, dass Dieter Zetsche sagt, ich muss zu den Grünen gehen, wenn ich wissen will, wie die Zukunft der deutschen Automobilindustrie aussieht. Wir können selbstbewusst in die Diskussion gehen. Unsere Stichworte wie E-Mobilität, Car-Sharing, gut ausgebauter öffentlicher Verkehr, sind doch in aller Munde mittlerweile. Darüber mit denen zu ringen, um die es geht, darum geht es.

Mit welchem Ziel ziehen die Grünen in die nächste Bundestagswahl: Muss Angela Merkel weg oder nicht?

Die Grünen würden dieser Republik in jeder Konstellation guttun. Beim Klimaschutz, bei der Frage einer menschenrechtsorientierten Außenpolitik, aber genauso in der Arbeitsmarkt- oder Rentenpolitik. Ich halte nichts davon, wenn wir uns im Wahlkampf nur an Frau Merkel abarbeiten. Wir machen ihr genauso Konkurrenz wie der SPD und der Linkspartei.

Winfried Kretschmann hat sich für eine erneute Kanzlerkandidatur Merkels ausgesprochen. Teilen Sie das?

Wir Grünen entscheiden nicht, ob Merkel noch einmal antritt. Ich rate Winfried Kretschmann, zu bedenken, dass er in der Öffentlichkeit nicht nur als Ministerpräsident von Baden-Württemberg wahrgenommen wird, sondern auch als jemand, der maßgeblich das grüne Bild bestimmt.

Umgekehrt rate ich aber auch einigen anderen zu mehr Gelassenheit. Zu viel Dauerempörung über vermeintliches und tatsächlich Gesagtes ist ungesund. Man muss auch nicht über jedes Stöckchen springen.

Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen), Ministerpräsident von Baden-Württemberg und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) nehmen am 07.07.2016 in Berlin an der Stallwächterparty der baden-württembergischen Landesvertretung in Berlin teil und halten jeweils ein Weinglas in der Hand.
Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen), Ministerpräsident von Baden-Württemberg und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) nehmen am 07.07.2016 in Berlin an der Stallwächterparty der baden-württembergischen Landesvertretung in Berlin teil und halten jeweils ein Weinglas in der Hand.

© Maurizio Gambarini/dpa

Die Grünen betonen gerne, dass sie für „grün pur“ stehen. Was wäre denn das wichtigste Projekt in einer Bundesregierung?

Eine Energiewende, die den Namen verdient. Wir brauchen einen Fahrplan für den Ausstieg aus der Kohle, wenn wir beim Klimaschutz ernsthaft vorankommen wollen. Aber auch in der Verkehrspolitik geht es darum, durch schadstoffarme und schließlich schadstofffreie Autos die Emissionen zu senken und diesen wichtigen Industriezweig konkurrenzfähig zu halten. Wir bekennen uns zum Automobilproduktionsstandort Deutschland. Die Zukunft ist vernetzt, selbstfahrend, aber vor allem elektrisch. Die industrielle Landwirtschaft ist weder für die Bauern selbst noch für Natur und Tiere zukunftsfähig. Ich würde es für sinnvoll halten, beim Fleisch eine Kennzeichnung über Haltungsbedingungen einzuführen, so wie bei den Eiern. Und wir müssen den Pestiziden den Kampf ansagen.

Herr Özdemir, der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan lässt Oppositionspolitiker verhaften, schaltet die Pressefreiheit aus und führt das Land an den Rand einer Diktatur. Hat sich ein EU-Beitritt damit erledigt?

Die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei liegen de facto schon auf Eis – nicht erst seit der Verhaftung von frei gewählten HDP-Abgeordneten. Ich sehe nicht, wie man mit Erdogan bei dem Thema weiterkommen soll. Ich würde die Beitrittsverhandlungen aber nicht abbrechen.

Auch nicht, wenn die Türkei die Todesstrafe einführt?

Damit wären die Beitrittsverhandlungen automatisch beendet. Ich warne aber davor, dass die EU die Beitrittsverhandlungen von sich aus abbricht. Für Erdogan wäre das ein gefundenes Fressen. Wir müssen aufpassen, dass wir mögliche Strafen nicht so auswählen, dass sie die falschen Leute treffen. Wir dürfen nicht die vielen Menschen in der Türkei vergessen, die nicht für Erdogan sind. Die werden wir vielleicht eines Tages brauchen, wenn es in einer Post-Erdogan-Ära darum geht, das Land stabil zu halten und Richtung Europa auszurichten. Mit einer demokratischen türkischen Regierung sollte man auch weiter über einen EU-Beitritt verhandeln.

Haben CDU und CSU mit ihrer ablehnenden Haltung zum Türkei-Beitritt in der Vergangenheit dazu beigetragen, dass die Türkei jetzt auf dem Weg in eine Diktatur ist?

Es war einer der größten Fehler von Angela Merkel, die Beitrittsverhandlungen 2005 abrupt zu beenden. Das war zu einem Zeitpunkt, als die Türkei auf dem richtigen Weg war. Sie hat damals mit dem französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy die privilegierte Partnerschaft aus dem Hut gezaubert und der Türkei auf jede erdenkliche Weise signalisiert, dass man nicht an ihr interessiert ist. Selbstkritisch würde ich allerdings auch hinzufügen: Wir hatten als SPD und Grüne, wie viele damals, lange ein zu optimistisches Bild, dass aus der AKP eine Art CDU der Türkei wird.

Wie kann die Bundesregierung jetzt den Druck auf Ankara erhöhen?

Ich sehe nicht, wie unsere Soldaten in Incirlik angesichts des unfreundlichen Umfeldes weiter dort Dienst verrichten können. Für Erdogan geht es gegenwärtig nur noch um den Machterhalt. Die Mischung aus Größenwahn, Minderwertigkeitskomplex und Verschwörungstheorien ist extrem gefährlich. Man sieht ja, dass Erdogan keine Skrupel kennt im Umgang mit der Opposition und Kritikern. Extralegale Hinrichtungen gibt es längst im Südosten der Türkei, ohne dass jemand etwas davon mitbekommt, weil es wegen der Abschaffung der Pressefreiheit keine Berichterstattung darüber geben kann.

Könnten denn Wirtschaftssanktionen etwas bewirken?

Die EU sollte eine gemeinsame Türkei-Strategie entwickeln. Ein Land allein richtet da wenig aus. Ich bin vorsichtig geworden, irgendetwas auszuschließen.

Wann waren Sie persönlich zum letzten Mal in der Türkei?

Letztes Jahr im Urlaub. Seit der Armenienresolution bin ich Zielscheibe von fanatischen Ultranationalisten außerhalb wie innerhalb der Türkei.

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