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Menschen, denen ein Betreuer für alle rechtlichen Angelegenheiten bestellt wurde, verlieren ihr Wahlrecht.

© imago stock&people

Bundestagswahl: Menschen mit Behinderung sollten wählen dürfen

Menschen, die einen Betreuer haben, dürfen nicht wählen. Das ist nicht gerechtfertigt. Es ist Aufgabe des Staates und der Gesellschaft, ihre Wahl möglich zu machen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Ronja Ringelstein

Wählen gehen – manche erfüllt die Ausübung dieses Rechts, das das Bundesverfassungsgericht einmal das „vornehmste Recht des Bürgers im demokratischen Staat“ nannte, mit Stolz. Andere winken politikverdrossen ab und nehmen es nicht wahr. Manche wählen aus Protest, manche aus Überzeugung. Doch sie alle eint: Sie sind deutsche, volljährige Staatsbürger. Sie dürfen wählen, weil der Staat davon ausgeht, dass sie sich aufgrund ihrer Einsichtsfähigkeit einen politischen Willen bilden können.

80.000 Menschen sind von der Bundestagswahl ausgeschlossen

Menschen mit Behinderung, die dauerhaft voll betreut werden, stehen nach derzeitiger Rechtslage unter dem Generalverdacht, sich diesen Willen nicht bilden zu können. Damit seien in Deutschland rund 80.000 Menschen von der kommenden Bundestagswahl ausgeschlossen, sagte die Bundestagsvizepräsidentin Ulla Schmidt (SPD) am Donnerstag. Das mag angesichts einer Gesamtbevölkerung von über 82 Millionen Menschen als nicht viel erscheinen – umso wichtiger ist es, sich die Einzelfälle anzusehen. Die Rechte von Menschen mit Behinderungen sind Minderheitenrechte. Und das Wahlrecht ist das fundamentalste Recht in einer Demokratie.

Nicht jeden zuzulassen, hat aus Sicht des Staates schützenden Charakter: Das wesentliche Ziele der Wahl – sie soll die Volksvertretung als Ausdruck des Volkswillens legitimieren – muss erhalten bleiben. Sie darf nicht von Beliebigkeit geprägt sein. Doch bislang verliert jeder Mensch, für den die volle Betreuung durch einen Richter oder Notar angeordnet wird, automatisch sein Wahlrecht. Das ist angesichts der Vielartigkeit der Behinderungen und Erkrankungen nicht angemessen. Ein Betreuer kann bei psychischer Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung bestellt werden. In vielen Fällen ist eine politische Einsichtsfähigkeit durchaus gegeben, nur brauchen die Menschen eben Unterstützung.

Vernünftig muss schließlich auch niemand wählen

Die UN-Behindertenrechtskonvention, die in Deutschland Gesetzesrang hat, garantiert allen Menschen mit Behinderung ihre politischen Rechte und damit auch die Möglichkeit, sie wahrzunehmen. Staat und Gesellschaft sind gefordert, diese Möglichkeit zu schaffen. Was kann möglich gemacht werden, um diese Menschen nicht mehr von der Teilhabe an der politischen Gestaltung auszuschließen? Dies sollte die Leitfrage sein: das Wie, nicht das Ob.

Zudem bestimmt das Grundgesetz, dass die Wahl allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim sein muss. Sie bestimmt nicht, dass sie vernünftig sein muss. Wenn das ein Kriterium wäre, müssten einige andere deutsche Volljährige von der Wahl ausgeschlossen werden, bei denen die Einsichtsfähigkeit fraglich ist.

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