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Im kommenden September wird der neue Bundestag gewählt.

© dpa

Bundestagswahl: Das Wahlrecht bleibt, wie es ist

Der nächste Bundestag dürfte deutlich mehr Sitze haben als bisher. Mit einer Verständigung im Parlament, das zu verhindern, ist offenbar nicht mehr zu rechnen.

Im Januar will sich die Arbeitsgruppe der Koalitionsfraktionen zur Reform des Wahlrechts zwar noch einmal treffen. Aber wie es aussieht, ist der Versuch, noch vor der Bundestagswahl im kommenden September zu einer Änderung zu kommen, um die Abgeordnetenzahl nicht ausufern zu lassen, praktisch gescheitert. Die Experten von Union und SPD sehen weder in dem von Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) schon im April vorgestellten Modell eine Lösung noch in dem von den Sozialdemokraten eingebrachten Vorschlag von Anfang Dezember. Das ergab sich nach Informationen des Tagesspiegels beim Treffen der Arbeitsgruppe am vorigen Donnerstag. Lammert wollte die Zahl der Mandate bei etwa 630 deckeln, die SPD hatte vorgeschlagen, das Zuteilungsverfahren der Sitze zu ändern.
Ohne eine Reform könnte der nächste Bundestag deutlich größer sein als der jetzige, der 630 Abgeordnete hat. Die gesetzliche Zahl der Mandate liegt bei 598. Doch diese erhöht sich wegen der Überhangmandate und der zur Wahl 2013 eingeführten Ausgleichsmandate. Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei in einem Bundesland über die Erststimme mehr Direktmandate erlangt, als ihr nach dem Parteienproporz, der sich aus den Zweitstimmen ergibt, eigentlich zustehen. Diese Mandate bleiben einer Partei, aber sie werden eben durch Zusatzmandate für andere Parteien ausgeglichen. Außerdem kann es allein wegen des zweistufigen Zuteilungsverfahrens zu einem Ausgleichsbedarf kommen – wie bei der Wahl 2013.

20 bis 30 Überhangmandate

Der Politikwissenschaftler Joachim Behnke von der Zeppelin-Universität Friedrichshafen hat für den Tagesspiegel eine aktuelle Schätzung gemacht, basierend auf den Umfragen. Demnach ist bei der Wahl im kommenden Herbst vor allem mit Überhangmandaten bei der CDU zu rechnen. Laut Behnke dürften es nicht weniger als 20, es könnten aber auch mehr als 30 sein. Das liegt daran, dass die CDU derzeit in den Umfragen schlechter abschneidet als bei der Wahl von 2013. Doch bleiben die Unionsparteien mit Abstand stärkste Kraft und bekommen daher auch die meisten Direktmandate – nach der aktuellen Prognose des Informationsportals „election.de“ holen sie 226 der 299 Wahlkreise. Behnke geht von einer Gesamtsitzzahl zwischen 660 und knapp 700 aus. „Allerdings sind wegen der AfD Unsicherheiten in der Schätzung“, gibt er zu bedenken. Denn das Potenzial der Rechtspartei lässt sich demoskopisch so lange vor der Wahl nicht genau erfassen. In einer fiktiven Berechnung für die Arbeitsgruppe der Koalition kam das Bundesinnenministerium unlängst auf eine Bundestagsgröße von 667 Abgeordneten. Problematisch könnte allerdings auch das Ergebnis der CSU sein. Denn das bundesweite Ausgleichen von Überhangmandaten einer Regionalpartei führt wegen des größeren Hebels zu einer weitaus höheren zusätzlichen Sitzzahl. Je schlechter die CSU abschneidet (bei Gewinn aller Direktmandate), desto größer der Ausgleichsbedarf. Die kritische Marke sieht Behnke bei 42 Prozent – fiele die CSU darunter, würde sich der bundesweite Ausgleich stark an ihr orientieren, und dann könnten es auch über 700 Mandate sein. Bei der vorigen Bundestagswahl kam die CSU auf 49,3 Prozent – davon ist sie derzeit wohl ein gutes Stück entfernt.

Verweis auf Karlsruhe und die OSZE

Dass es zu keiner Änderung am Wahlrecht mehr kommt, dafür spricht auch die Einschätzung des Lammert-Vorschlags und des SPD-Modells durch das Innenministerium. In zwei Schreiben verweist der Parlamentarische Staatssekretär Günter Krings darauf, dass beide Reformen verfassungsrechtlich problematisch seien. Sowohl bei Lammerts Modell einer Deckelung der Mandatszahl als auch beim SPD-Vorschlag einer veränderten Mandatszuteilung würde jener Effekt des negativen Stimmgewichts entstehen, der 2011 das Bundesverfassungsgericht veranlasste, das alte Wahlrecht als grundgesetzwidrig zu bezeichnen. Damit würde das Risiko wachsen, dass die Wahl in Karlsruhe angefochten wird. Zudem sei das SPD-Modell nicht darauf zugeschnitten, eine wegen zahlreicher Überhangmandate erforderliche Vergrößerung des Parlaments zu vermeiden, sondern nur die Nachteile des Zuteilungssystems auszugleichen. Die SPD wiederum kritisiert an Lammerts Plan, dass er angesichts der zu erwartenden Wahlergebnisse mutmaßlich vor allem die Union begünstige.

Krings führte zudem ein Argument an, auf das die Koalition sich zurückziehen kann, wenn sie endgültig das Ende der Reformversuche verkündet: Wahlrechtsänderungen innerhalb eines Jahres vor der Wahl würden nach dem Kodex für gute Wahlpraxis der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) „voraussichtlich zu einer Beanstandung bei der Wahlprüfung durch die OSZE führen“.

Nun dürfte sich die Reform des Wahlrechts in die nächste Legislaturperiode verschieben. Grüne und Linke hätten sie gerne schon zur nächsten Wahl umgesetzt, kamen mit ihren Plänen aber bei der Union und der SPD nicht durch. Kleinere Änderungen, die das Problem des Mandatszuwachses weit über die Normalgröße hinaus hätten begrenzen können, wurden ebenfalls nicht in Angriff genommen. So könnte eine Wahl mit nur einer Stimme, die dann für den Wahlkreis und die Landesliste genommen wird (statt den getrennten Erst- und Zweitstimmen), zu etwas weniger Überhangmandaten führen, weil das Stimmensplitting nicht mehr möglich wäre.

Listenverbindung von CDU und CSU?

Eine Lösung wäre auch, wenn CDU und CSU ihre Listen verbinden würden, also praktisch als eine bundesweite Zählgemeinschaft aufträten. Dann wäre der Effekt gemildert, dass auszugleichende CSU-Mandate zu sehr hohen Sitzzahlen führen. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht solche Listenverbindungen untersagt, wenn unterschiedliche Parteien sich dadurch rechnerische Vorteile verschaffen wollen. Aber ein solcher Vorteil, etwa das Überspringen der Fünfprozenthürde, läge im Fall von CDU und CSU nicht vor – ganz im Gegenteil. Und eine Ausnahme könnte sich laut Karlsruher Urteil ergeben, wenn eine „verfestigte Form des Zusammenwirkens“ vorliegt – was angesichts der Fraktionsgemeinschaft im Bundestag und der erklärten Absicht, bei Wahlen nicht direkt zu konkurrieren, bei CDU und CSU der Fall ist. Doch realistisch ist diese Listenverbindung, bei der die CDU wohl Nachteile hätte, nicht. Erst recht, seit CSU-Chef Horst Seehofer neuerdings stärker auf Konfrontationskurs zur Schwesterpartei geht und sogar die Fraktionsgemeinschaft in Zweifel zieht.

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