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Bei den Grünen gibt es Sonnenblumen, bei der AfD Kakteen.

© Ralf Hirschberger/dpa-Zentralbild/dpa

Bundestagswahl 2017: Kann man AfD wählen, ohne eine Macke zu haben?

Sie sind enttäuscht, wütend, abgehängt: So heißt es oft über die Wähler der AfD. Das Vorurteil hält sich hartnäckig, weil es bequem ist. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Da ist zum Beispiel Rudi, der rüstige Rentner. Er ist ausgedacht, aber nicht irreal. Rudi ist 66 Jahre alt, verheiratet, hat drei Kinder und acht Enkelkinder. Mit den Enkeln spielt er oft. Rudi wohnt in einer Reihenhaushälfte in einer Kleinstadt in Baden-Württemberg, puzzelt gern im Garten herum, drischt jeden Mittwoch mit Freunden einen Skat, macht Nordic Walking, hilft ehrenamtlich als Betreuer im örtlichen Sportverein. Alle, die ihn kennen, beschreiben ihn als lebenslustigen, hilfsbereiten, fröhlichen Menschen. Vor zwei Wochen, bei der Bundestagswahl, hat er die AfD gewählt.

Wie kann das sein? AfD-Wähler sind doch, gemäß einem weit verbreiteten Vorurteil über sie, enttäuscht, depressiv, wütend, abgehängt, ängstlich, östlich, verunsichert. Alle möglichen Gefühlsdefekte und Phobien werden ihnen angeklebt, damit der Eindruck entsteht: Man muss schon eine Macke haben, um diese Partei zu wählen.

Dabei geht die Strategie der Pathologisierung von AfD-Wählern regelmäßig nach hinten los. Bei Rudi zum Beispiel verstärkt sie den Eindruck, dass ihn die anderen Parteien und ein Großteil der Medien nicht ernst nehmen. Durch die Arroganz der angeblich Gesunden sieht er sich mit seinen Ansichten weiter nach rechts getrieben, als er sich selbst politisch verortet. Dabei hat Rudi nur zwei Anliegen. Er will, erstens, die Zahl der Einwanderer dauerhaft begrenzen, am besten gar keine mehr aus islamischen Ländern aufnehmen, weil er meint, die seien besonders schwer zu integrieren. Er will, zweitens, dass die Ehe wieder als Verbindung von Frau und Mann verstanden wird, weil allein aus dieser Kombination Nachwuchs entstehen kann.

Die Wirtschaftsdaten in Ost und West sind exzellent

Das Vorurteil über die ungebildeten, gefühlsdefekten, sozial benachteiligten AfD-Wähler ist längst widerlegt. Die meisten von ihnen sind durchschnittlich gebildet und verdienen ganz gut. Selbst im Osten Deutschlands liegt die Arbeitslosigkeit bei nur sieben Prozent, in Thüringen und Sachsen etwa ist sie geringer als in Nordrhein-Westfalen oder dem Saarland.

Im europäischen Vergleich sind die Wirtschaftsdaten in Ost und West exzellent. Auf junge Griechen, Spanier und Franzosen muss die deutsche Debatte über „Abgehängte“ wie Luxus wirken. Dennoch hält sich das Vorurteil über wütende und perspektivlose Rechtspopulisten hartnäckig. Zuletzt beklagte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier „die Mauern aus Entfremdung, Enttäuschung oder Wut, die bei manchen so fest geworden sind, dass Argumente nicht mehr hindurchdringen“.

Dem politischen Gegner Gefühlsdefizite, soziale Schieflagen oder Irrationalität aufgrund fehlender Argumente anzudichten, ist eine Form der verbalen Ausgrenzung, durch die jene Verstocktheit oft erst produziert wird, die man dann nachher beklagt.

Bei der Tegel-Abstimmung war es ähnlich

Ein ähnlicher Mechanismus war auch vor und nach dem Votum der Berliner für oder gegen die Offenhaltung des Flughafens Tegel am Werk. Vorher hieß es, die Befürworter einer Offenhaltung seien egoistisch, ahnungslos, rechtsunkundig. Nachher hieß es, sie seien nicht aufgeschlossen gewesen für die besseren Argumente, hätten dem Senat und dem Regierenden Bürgermeister einen Denkzettel verpassen wollen. Was für eine Anmaßung! Eine Mehrheit erwachsener, vernunftbegabter und wahlberechtigter Bürger will nach reiflicher Abwägung schlicht, dass Tegel länger offenbleibt als vorgesehen. Mehr steckt nicht dahinter.

AfD-Wähler und Tegel-Befürworter vertreten andere Meinungen, als Nicht-AfD-Wählern und Tegel-Gegnern lieb ist. Deshalb sind sie weder verrückt noch dumm, weder abgehängt noch verstockt. Wer in der Auseinandersetzung mit ihnen lieber psychologisiert und pathologisiert, als zu argumentieren, verlässt jenen Dialograum, den die Demokratie bitter nötig hat.

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