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Eine will's bleiben, der andere will's werden.

© Gregor Fischer, dpa

Bundestagswahl 2017: Merkel oder Schulz – eine Entscheidungshilfe

Trump, Brexit, Putin, Euro-Krise, Spaltung der EU: Wäre die Lage nicht so ernst, könnte man an ihr verzweifeln. Politik aber muss Prioritäten setzen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Respekt, Würde, Gerechtigkeit, Aufbruch. Wenn in öffentlicher Rede pathetisch aufgeladene Begriffe immer öfter durcheinanderpurzeln, weiß der Bürger: Es ist bald Wahlkampf. Auf Bundesebene wird zwar erst in einem halben Jahr über die Richtung entschieden, in die das Land gehen soll. Aber seit der Nominierung von Martin Schulz als Kanzlerkandidat der SPD ist schon jetzt eine Dynamik in die Auseinandersetzung gekommen, die elektrisiert. Die Sozialdemokraten wirken, als seien sie aus einem Dornröschenschlaf erwacht und hätten als erstes einen doppelten Espresso getrunken. Im Englischen gibt es für diesen Gemütszustand die Metapher: wie das Energizer Bunny auf Prozac.

Plötzlich kommt Bewegung in Umfragen, die bis vor kurzem noch wie in Stein gemeißelt schienen. Union zwischen 30 und 35 Prozent, SPD zwischen 20 und 25 Prozent, Grüne, Linke und AfD zwischen 8 und 12 Prozent, FDP knapp über 5 Prozent: So war es einst. Jetzt schnellt die SPD nach oben, liegt gelegentlich gar vor der Union. Die Möglichkeit eines Machtwechsels beflügelt die Genossen und paralysiert viele Christdemokraten.

Die eine tut nichts, sie sitzt alles aus. Der andere tönt rum und hat außer der irrwitzigen Verlängerung von ALG1 nichts zu bieten. Es bleibt die Wahl zwischen Pest und Cholera.

schreibt NutzerIn klausbork

Doch von Personen, Parteien und Programmen abgesehen: Worum geht es bei der nächsten Bundestagswahl, was ist ihr zentrales Thema? Die Antwort steht, noch vor den Präsidentschaftswahlen in Frankreich, fest: Es geht um die Selbstbehauptung Europas! Es geht um die Schaffung eines neuen, stabilen Fundaments, das weder marginalisiert wird durch asiatische Kapazitäten, noch bloß reaktiv den erratischen Aggressivitäten von Wladimir Putin, Donald Trump oder Recep Tayyip Erdogan gegenübersteht. Das ist ein Mammutprojekt, und es gibt große Zweifel, ob die Europäische Union über die Kraft verfügt, es zu stemmen. Aber die Aufgabe ist, um ein Lieblingswort der Kanzlerin zu gebrauchen, alternativlos.

Der Fortbestand des Westens ist gefährdet

Trump, Brexit, Putin, anhaltende Euro-Krise, plus die doppelte Spaltung der Europäischen Union in einen wohlhabenden Norden und verschuldete Südstaaten mit hoher Arbeitslosigkeit einerseits und in liberale Demokratien im Westen und zum Teil autoritäre Demokratien im Osten (Ungarn, Polen) andererseits: Wäre die Lage nicht so ernst, könnte man an ihr verzweifeln. Der Fortbestand des Westens ist durch die Menge der unwägbaren Entwicklungen im transatlantischen Verhältnis zumindest gefährdet.

Hinzu kommt die längst noch nicht bewältigte Flüchtlingsproblematik. Auch die hat zwei Teile. Da sind zum einen die anhaltend hohen Flüchtlingsströme. Die Menschen kommen zwar kaum noch über die Türkei und die Balkanroute, dafür aber über das Mittelmeer. Die Zahl des Rekordjahrs 2016 mit mehr als 180.000 Migranten ist in diesem Jahr, Ende März, bereits überschritten worden. In Afrika herrschen „Krieg und Krankheit, Korruption und Unterdrückung, Armut und persönliche Perspektivlosigkeit“, schreibt der ehemalige Chefredakteur der „Zeit“, Theo Sommer, die „drohende Elendsinvasion“ bereite deutschen Politikern schlaflose Nächte.

Zum anderen muss die Kärrnerarbeit der Integration der Flüchtlinge vorangetrieben werden. Das betrifft in erster Linie den Arbeitsmarkt. Gut zwei Drittel der Geflüchteten sind im erwerbsfähigen Alter. Doch wegen der stark gestiegenen Zahl der Asylbewerber sank die Beschäftigungsquote von 17,9 Prozent im Dezember 2015 auf 16,9 Prozent ein Jahr später. Noch hausen viele in Turnhallen und Containerdörfern. Auch die gesellschaftliche Integration bedarf weiterer großer Anstrengungen.

Die nächsten vier Jahre sind entscheidend

Bleiben zuletzt die Sicherheit und Prosperität des Kontinents. Von Nöten ist eine noch engere Verzahnung der Geheimdienste im Kampf gegen den islamistischen Terrorismus. Die Cyberkriegsabwehr-Kapazitäten müssen ausgebaut werden. Ohnehin besteht im Bereich des Digitalen erheblicher Aufholbedarf. Zur Illustration: Das Bezahlunternehmen Paypal ist an den Finanzmärkten mehr wert als Deutsche Bank und Commerzbank zusammen. Die Zeiten der Old-School-Economy sind endgültig vorbei.

Das sind, nur knapp skizziert, die Dimensionen der Herausforderungen. Streiten lässt sich auch über vieles Anderes – Hartz IV, Bildung, Infrastruktur, Respekt, Klima, Militärausgaben. Doch ob Angela Merkel oder Martin Schulz: Politik besteht in der Pflicht, die richtigen Prioritäten zu setzen. Nur wer das kann – und auch vermitteln kann –, sollte das Land in den kommenden vier Jahren regieren. Es werden für Deutschland und Europa entscheidende Jahre sein.

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