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Bürgerbeteiligung: Werben für die Stromtrassen

„Dieser Bürgerdialog ist einzigartig in der Republik“, sagt Peter Ahmels. Seine Aufgabe ist es, Menschen davon zu überzeugen, dass quer durch Deutschland 2800 Kilometer Trassen gebaut werden müssen. Und dafür hat er ein ganz einfaches Überredungsmittel.

Als sich Peter Ahmels in den weißen Toyota Prius setzt, um von Husums Stadtmitte in die Vororte von Niebüll zu gelangen, tut er dies in Sichtweite zum Grab des Dichters Theodor Storm. Er weiß wohl, dass es dort drüben hinter der Klostermauer liegt. Er hat es sich sagen lassen. Nur hingeschaut hat er noch nie, die ganzen Tage nicht, die er nun schon hier oben zubringt. Keine Zeit. Und keinen Nerv.

Er muss sich ununterbrochen auf einen Dialog konzentrieren, und zwar nicht auf diesen hier:

„Aber“, sagte Hauke wieder, „unsere Deiche sind nichts wert!“

„Was für was, Junge?“

„Die Deiche, sag ich!“

„Was sind die Deiche?“

„Sie taugen nichts, Vater!“ erwiderte Hauke.

Storm, „Der Schimmelreiter“, ein Sohn spricht mit seinem Vater. Am Ende sagt der Sohn: „Die Deiche müssen anders werden!“

Die Deiche interessieren Ahmels nicht. Ahmels interessieren Stromtrassen. Die Stromtrassen müssen anders werden! Vor allem aber und zuerst müssen anders werden: die Dialoge! Deshalb ist Ahmels hier.

Der Prius rollt über die Landstraße, 40 Kilometer vom Süden in den Norden des Kreises Nordfriesland. Er rollt durch Schimmelreiterland. Es ist eine dermaßen abgelegene Gegend, dass auch das Navigationsgerät im Auto seine Dienste einstellt. Es kennt die Straßen hier nicht. Es empfiehlt Umwege.

Schließlich ist der Wagen am Ziel, und Ahmels sitzt an einem Tisch in der Friesenhalle in Risum-Lindholm, einer Gemeinde im Speckgürtel der 10 000-Einwohner-Stadt Niebüll, und er sagt laut und deutlich in ein Mikrofon: „Ein herzliches Moin, Moin an diesem Abend. Wir möchten Sie ganz herzlich begrüßen zum Bürgerdialog, wohnortnah, bürgernah, auf Augenhöhe. Dieser frühzeitige Bürgerdialog ist einzigartig in der Republik.“

Das Einzigartige an diesem Bürgerdialog besteht darin, dass er stattfindet, bevor von Investoren und Verwaltungen Tatsachen geschaffen wurden. Er unterscheidet sich damit deutlich von dem, was bei der sogenannten Bürgerbeteiligung in Deutschland bisher üblich war.

Das Misstrauen in Risum-Lindholm ist groß. Die Bürger sind zahlreich erschienen, 50 sind es von 3670. Übertragen auf Berlin würde das bedeuten, dass 50 000 Menschen anwesend sind. Der einzige in Frage kommende Austragungsort einer solch großen Veranstaltung wäre das Olympiastadion.

Die Distanzen wären riesig in diesem Stadion, aber sie sind es auch in der Friesenhalle. Der erste Bürger, der sich nach Ahmels’ Begrüßung zu Wort meldet, versucht den entsprechenden Ton vorzugeben. Aggressiv ist der und ein bisschen feindselig. Der Bürger sagt: „Ich wollte nur anmerken, dass Sie kaum zu verstehen sind. Dass die Akustik, die Sie hier anbieten, miserabel ist.“

Für Ahmels ist es der neunte von zehn Frühjahrsabenden in Nordfriesland. Er moderierte bis hierher Bürgerdialog-Veranstaltungen in der Alten Schmiede in Lütjenholm, im Restaurant Westermöhl zu Langenhorn und im Friedrichstädter Hotel Aquarium. In Hattstedt und Mildstedt und Weddingstedt, in Breklum und Tönning. Jeden Nachmittag bricht er auf aus Husum, wo er ein Ferienhaus neben dem Theodor-Storm-Grab gemietet hat.

Sein eigentlicher Arbeitsplatz ist Berlin. Ahmels leitet dort die Abteilung Erneuerbare Energien der Deutschen Umwelthilfe. Die Umwelthilfe hat sich in den vier Jahrzehnten ihres Bestehens geachtete Kompetenzen erworben, vor allem auf dem Gebiet der Zusammenführung gegensätzlicher Interessen. Sie bringt Umweltorganisationen, Politiker und Wirtschaftsleute miteinander ins Gespräch. Deshalb lag es nahe, dass die Regierung Schleswig-Holsteins dort angefragt hat, ob Ahmels nicht Bürgerbeteiligungsrunden zur geplanten Westküstentrasse moderieren könne.

Ministeriumsmitarbeiter und zwei Männer von der Stromnetzfirma sind dabei

Die Westküstentrasse: Teil jener im vergangenen Monat vom Bundestag gebilligten 2800 Kilometer Hochspannungsleitungen, die den im Norden Deutschlands erzeugten Windstrom in den industriellen Süden transportieren sollen. Oder anders gesagt: ihn überhaupt erst einmal vollständig aus dem windradreichen, aber Strom nur äußerst genügsam konsumierenden Schleswig-Holstein herausleiten sollen. Die Windräder hier drehen sich gelegentlich vergeblich. Ihr Strom passt in die alten Netze nicht mehr rein.

Westküstentrasse also: zentrales Energiewende-Projekt beschleunigt voranbringen. Riesiges Konfliktpotenzial. Ignorieren oder entschärfen?

Im Kieler Energiewende-Ministerium – das tatsächlich so heißt – entschied man sich fürs Entschärfen. Seit ungefähr eineinhalb Jahren finden deshalb Bürger-Informationsveranstaltungen statt. Der Energiewende-Minister, er heißt Robert Habeck und ist von den Grünen, baute in seinem Haus eine entsprechende Abteilung auf, stellte extra für den Bürgerdialog jemanden ein und sorgte dafür, dass für alle Westküstentrassenbelange der Bürger eine zentrale Ansprechperson zur Verfügung steht.

„Insofern“, sagte der Minister zu seinen Bürgern auf einer Konferenz im Januar, „auch wenn, äh, das nicht immer gleich so aussieht, begreife ich Bürgerinitiativen nicht als Gegner dieses Projektes. Und nicht als Gegner des Ministers. Sondern als Bürger, die sich einmischen im Engagement für ihre Region, mit ihren Interessen, und ihre Interessen stark einbringen. Sie sollten uns abnehmen, dass wir zuhören und lernen wollen aus der Region.“ Zuhören, lernen, Augenhöhe – es ist vor allem ein Versprechen, das Ahmels und der Minister abgeben. Ob es ernst gemeint ist, wird sich in den nächsten Jahren herausstellen.

Aber erst mal stimmt die Akustik nicht. Ahmels lässt einen Techniker die Lautsprecheranlage noch lauter drehen. Er, vor allem aber der Minister, können nicht mehr zurück, ohne sich selbst zu schaden. Zu oft haben sie ihre Dialogbereitschaft verkündet, das Ernstnehmen der Bürger, die Kompromissbereitschaft von Land und Investoren. Zu oft haben die Zeitungen im Norden darüber berichtet, zu viele Menschen in den betroffenen Gegenden haben dies zur Kenntnis genommen.

Oder besser gesagt, viele genug. Noch im vergangenen Jahr kam eine Studie von Ahmels’ Umwelthilfe und Umweltpsychologen der Universität Halle-Wittenberg zu dem Ergebnis, dass 56 Prozent der potenziellen Stromtrassenanwohner noch nichts oder kaum etwas vom Leitungsbau in ihrer Umgebung gehört hatten.

Auch um das zu ändern, zieht Peter Ahmels, Jahrgang 1956, weiter über die Dörfer, sitzt an diesem Abend hier in der Friesenhalle von Risum-Lindholm den 50 Misstrauischen gegenüber und lässt den Ton lauter machen. Alle sollen alles mitbekommen. Die Friesenhalle dient sonst vor allem als Sporthalle. Der SV Frisia 03 hat hier seine Heimat. Drinnen sind Tische zu einem großen Viereck zusammengestellt. Drumherum stehen Schautafeln. Sie informieren über die hierzulande gebräuchlichen Strommasttypen.

Gemeinsam mit Ahmels sind Ministeriumsmitarbeiter angereist. Zwei Männer von der niederländischen Stromnetzfirma Tennet sind auch da, die die Westküstentrasse bauen wird, und eine junge Frau von einem in Tennets Diensten stehenden Bauplanungsbüro.

Die Frau hält einen Vortrag zum Thema: Wie plant man so eine Stromleitung eigentlich? Sie spricht von der „Suche nach konfliktarmen Korridoren“. Sie sagt „Vogelwelt“ und „Landschaftsbild“, „Raumanalyse“ und „Raumwiderstandswerte“. Ein konfliktarmer Korridor sei bereits gefunden und geprüft, er sei mittlerweile „nach Abwägung der Betroffenheiten“ auch erweitert und angepasst worden, „unter anderem durch Rückmeldung aus der Region“. Er touchiert Risum-Lindholm im Osten.

Auf Landkarten, die hinter der Frau aufgestellt sind, ist der Korridor gut zu sehen. In der näheren Umgebung verläuft er bei den Gemarkungen Klixbüllfeld, Klockries, Schnatebüll und Trollebüll, Bargum, Sande und Steinighörn.

Und jetzt beginnt der Dialog. Der Bürgermeister des nahe gelegenen Stedesand steht auf, er sagt: „Wir werden ja quasi zugepflastert mit Leitungen. Wir sind eine Gemeinde ohne Windkraft und profitieren dementsprechend wenig. Wir erwarten eine Entschädigung.“

Der Bürgermeister von Risum-Lindholm steht auf und sagt, dass er eine größere Distanz zur Wohnbebauung wünsche. „Und Entschädigung.“

Ahmels erteilt einem der beiden Tennet-Männer das Wort. „Wenn wir in die Feinplanung gehen, dann reden wir auch mit den direkt Betroffenen“, sagt der. „Und dann geht’s auch um Entschädigungen.“

Der Chef des Kreisbauernverbandes sagt: „Erst einmal ein grundsätzliches Statement von mir für den Netzausbau.“ Um dann auch eine Forderung zu erheben, und zwar dahingehend, „dass wir eine wiederkehrende Entschädigung verlangen. Also für Maststandpunkte auf Feldern und für den Leitungsverlauf, also jährlich, ähnlich einer Pacht.“

Nach den Funktionären trauen sich auch die Bürger. „Gibt es irgendwelche Mindestabstände zu Gebäuden? Wie sind die, oder gibt es überhaupt welche?“

Tennet: „Die aktuelle Gesetzeslage sieht sogar noch Überspannung von Wohnhäusern vor. Daran möchten wir uns aber nicht orientieren.“

Ein anderer Bürger, der in der Nähe einer bereits durch die hiesige Gegend führenden Stromtrasse lebt: „Wir hören diese Leitung. Wenn es heiß ist und Wind und wenn Nebel ist, dann singt diese Leitung. Gibt es da Grenzen?“

Wieder ein anderer: „Wie sind Ihre Erwartungen hinsichtlich des Zeitraums der Realisierung?“

Sie fragen tastend, die Bürger. Umso glasklarer sind die Antworten, die sie bekommen. „Erdkabel ist keine Option?“ Eine Ministeriumsfrau sagt: „Erdkabel ist keine Option.“

Bürgerleitung - das ist das Argument, das viele überzeugt

Das sind die „Bandagen“, von denen der Energiewendeminister im Januar sagte, auch die „werden wir Ihnen vorführen“. Bandagen, vorgegeben vom Bundesgesetzgeber, vom Stand der Technik, von Fragen der Wirtschaftlichkeit. Dieser Bürgerdialog mag frühzeitig geführt werden, eingeschnürt von anderer Leute Interessen und von physikalischen Unwägbarkeiten ist er dennoch.

Die Bürger tasten sich weiter, während ihre Interessenvertreter aus den Gemeinden und dem Bauernverband weiter fordern. Sie tun das mit dem Bemühen um Höflichkeit. Ahmels weiß, das ist hier oben immer so. Er weiß das aus Erfahrung. Aus Erfahrung weiß er auch, dass es im südlich angrenzenden Landkreis Dithmarschen schon wieder ganz anders aussieht. Dort wird es regelmäßig laut. Ahmels hält das für einen landsmannschaftlichen Wesenszug.

Dithmarschen, Nimby-County. Nimby, dieses offenkundig aus Gründen der Verächtlichmachung erfundene Akronym, das für „not in my backyard“ steht. Für „nicht vor meinem Gartenzaun“ sozusagen. Mittlerweile gern und vor allem im Internet gebrauchte Formel, die immer dann abgefeuert wird, wenn irgendwo irgendwer gegen etwas ist.

Da die Schützen verlässlicherweise stets hinter Computermonitoren in Deckung gehen, ist nicht auszumachen, ob es sich bei ihnen um Strommasten-, Windrad- oder Autobahn-Enthusiasten handelt, ob sie Verfechter einer reinen Lehre der Selbstlosigkeit sind oder etwas völlig anderes.

Ahmels jedenfalls findet den allgegenwärtigen Nimby-Vorwurf heuchlerisch. Auch an Abenden, an denen er erschöpft von Diskussionen in Dithmarschen in sein Husumer Gästebett zurückkehrt. Berechtigte Interessen seien eben berechtigte Interessen, sagt er, erst recht, wenn es dabei um den eigenen Besitz oder die eigene Gesundheit geht.

Es ist jetzt zehn nach acht am Abend, der Dialog von Risum-Lindholm hat gerade einmal eine gute Stunde gedauert. Ahmels will gerade ansetzen, die Kernforderungen seiner Gastgeber zu resümieren, da steht noch einmal einer auf. Auch er zögert, er ahnt, dass seine Frage leicht als anmaßend verstanden werden kann und formuliert etwas missverständlich: „Eine Bürgerbeteiligung, also finanziell, ist das geplant bei der Trasse?“ Der Mann von Tennet aber hat sofort verstanden. Es geht dem Bürger nicht darum, ob er an den Kosten beteiligt wird, sondern an den Gewinnen beteiligt werden kann. Ja, das sei geplant, sagt der Tennet-Mann. Die Trasse sei nicht schön, das Ding, „es weckt Ängste“. Und eine Gewinnbeteiligung sei ein Mittel dagegen. Wer eine gewisse Summe für den Trassenbau einlege, werde mit einer Rendite von fünf Prozent belohnt. Man nenne das „Bürgerleitung“.

Danach meldet sich niemand mehr zu Wort. Ahmels sagt, alles, was hier vorgebracht wurde, werde einfließen in das Fazit dieser Zehn-Orte-Tournee. Mitte Juni sei das erstellt und werde dann veröffentlicht, inklusive der Protokolle aller Bürgerdialoge. So könne jeder, der wolle, nachvollziehen, welche Argumente und Wünsche welche Berücksichtigung gefunden hätten. Danach werde man wieder miteinander reden. „Schönen Dank, schönen Abend“, sagt Ahmels, und dann geht das Licht aus in der Friesenhalle.

Draußen, bei den Bürgern, werden weiter Dialoge geführt. Sie drehen sich um den letzten Satz des Tennet-Abgesandten. Ob man sich kaufen lasse, wenn man auf dessen bisher ziemlich einmaliges Angebot eingehe? Oder ob dies nur recht und billig sei? Eine abschließende Antwort wird nicht gefunden. Die Leute einigen sich nur auf eines: weiter miteinander reden zu wollen.

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