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Pegida-Anhänger am Tag der Deutschen Einheit in Dresden.

© AFP PHOTO / Odd ANDERSEN

Brexit, Flüchtlinge, Rechtspopulisten: Europa braucht eine Atempause

Die Europäische Union ist sich über ihre Zukunft im hohen Maße unsicher – da hilft nur Besinnung. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Gerd Appenzeller

Das Jahr ist noch nicht zu Ende. Aber schon jetzt ist sicher, dass es kein gutes Jahr für Europa gewesen sein wird. Man muss nicht pessimistisch veranlagt sein, um auch für 2017 eher düstere Prognosen zu erstellen. In mehr als 60 Jahren der immer intensiver werdenden Zusammenarbeit ist dieser Kontinent wieder zu einem Machtfaktor geworden. Neben wachsenden und gewachsenen großen Nationen wie den USA, China, Indien und Russland war diese Europäische Union Mitspieler im globalen Konzert geworden. Das ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit, denn bis auf das nun den Staatenverbund verlassende Großbritannien wäre keiner der Staaten der Union alleine wirklich von den großen Mächten ernst genommen worden.

Nun aber droht der Rückfall, das Auseinanderbrechen des Konstruktes Europäische Union, weil der Egoismus kurzfristig mehr Vorteile verspricht und auch kein Staatsmann oder keine die Union überwölbende Institution da ist, die das Ansehen hätte, einen gemeinsamen Willen zu formulieren und akzeptiert zu werden. André Wilkens hat in seinem Essay am Sonntag im Tagesspiegel das Loblied der offenen Gesellschaft gesungen und ihre friedensstiftende und bewahrende Wirkung im Kontrast zu den geschlossenen Gesellschaften gewürdigt, die in Europa auf einmal wieder Fürsprecher – oder, sagen wir besser: Lautsprecher – gefunden haben.

Es ist zu billig, das drohende Auseinanderfallen der Europäischen Union nur den Populisten anzulasten. Die haben am Rückfall in nationale Egoismen einen hohen Anteil, weil sie wie die radikalen politischen Bewegungen der 20er und 30er Jahre des letzten Jahrhunderts mit Vorurteilen und Lügen Politik machen. Aber ohne das Unvermögen der Institutionen, mit den vorhandenen Herausforderungen fertig zu werden, hätten die Le Pens, die Orbans und die Zemans nicht so viel Gehör gefunden. So hat es objektiv betrachtet keine gewaltfreie Möglichkeit gegeben, die vielen hunderttausend Menschen aus dem Nahen und Mittleren Osten von Europa fern zu halten, die in den letzten anderthalb Jahren auf dieser Insel des Friedens Zuflucht suchten. Wer anderes behauptet, negiert die Fakten.

Dublin, das war ja so bequem

Aber wenn sich Regierungen in Berlin, Wien, Budapest, Warschau oder Kopenhagen nicht in den letzten Jahren hinter der Dublin-Regel zurückgezogen, sondern Griechenland und Italien aktive Hilfe angeboten hätten, wäre es vermutlich nicht zu den Elendsmärschen quer durch Europa gekommen, die bei den einen spontane Hilfsbereitschaft und bei den anderen panikartiges Zurückweichen ausgelöst hatten. Dublin, das war ja so bequem – die Flüchtlinge sollten gefälligst in dem ersten sicheren Land bleiben, dessen Boden sie betreten hatten. Deutschland war das nicht. Polen auch nicht, auch nicht Österreich oder Ungarn und Tschechien. Im August des Jahres 2015 aber brach die Realität in die Traumwelt ein – die Flüchtlinge standen plötzlich auf dem Hauptbahnhof von Budapest.

Griechenland hätte Hilfe gebraucht: Das Flüchtlingslager "Moria" auf der griechischen Insel Lesbos
Griechenland hätte Hilfe gebraucht: Das Flüchtlingslager "Moria" auf der griechischen Insel Lesbos

© dpa

Das Irrationale am Verhalten der ungarischen oder der tschechischen Spitzenpolitiker ist ja, dass ihre Zurückweisung der Flüchtlinge kein Ansatz zur Lösung des Problems ist, sondern nur eine vorübergehend erfolgreiche Negation von dessen Existenz. Die schrillen Töne, die in der deutschen AfD und dem französischen Front National einen verstärkenden Resonanzboden finden, erwecken bei frustrierten Wählern nur den Eindruck, die Gaulands und Le Pens dieser Welt könnten irgendeinen konstruktiven Beitrag leisten – ein fataler Irrtum.

Dass Angela Merkel in dieser schwierigen Situation weder innen- noch europapolitisch ihrer Führungsrolle gerecht werden kann, ist durchaus dramatisch. Bislang zog sie ihre Stärke auf dem europäischen Parkett auch aus ihrer in Deutschland unangefochtenen Führungsrolle. Eine Kanzlerin aber, deren Partei wegen der Flüchtlingspolitik eine Wahl nach der anderen verliert, eine Parteivorsitzende, die vom politisch eng verbundenen CSU-Spitzenpersonal systematisch demontiert wird, die aus einem Land der tricksenden Autoindustrie und der schwankenden Großbanken kommt – wer sollte in der EU auf sie hören?

Was sie derzeit noch rettet, ist das Funktionieren des Flüchtlingsabkommens mit der Türkei. Nun wartet sie, wartet auch Europa darauf, ob sie beim CDU-Parteitag in Essen noch einmal als Kandidatin für das Kanzleramt auftritt und bestätigt wird. Das könnte ihr, könnte auch Europa noch einmal Kraft für eine Atem- und Nachdenkpause in der aktionistischen Hektik geben.

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