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Der türkische Präsident Erdogan will eine Bestrafung des Satirikers Jan Böhmermann erreichen.

© Reuters/Kayhan Ozer/Presidental Palace/Handout

Böhmermann, Merkel und Erdogan: Das Ja zum Prozess ist anstrengend, aber richtig!

Der Leiter unseres Meinungs-Ressorts schrieb schon vor der Entscheidung von Angela Merkel, es wäre die richtige Entscheidung, einen Prozess zuzulassen. Lesen Sie hier noch einmal seine Argumente für die Ermittlungen.

Wenn Deutsche ihre Liebe zur Meinungsfreiheit entdecken, ist traditionell Vorsicht angesagt. In diesem Land wurde ja nicht nur der Holocaust erfunden, sondern auch das Gesetz, das die Holocaustleugnung unter Strafe stellt – was dann weltweit Nachahmer fand. Seitdem ist um die Frage, wer wegen missliebiger Äußerungen belangt werden soll, ein internationaler Wettbewerb im Gange.

Ein paar Beispiele: In Argentinien darf man die von der Militärjunta begangenen Verbrechen nicht leugnen, in Frankreich nicht den Genozid an den Armeniern, in der Türkei gilt das Gegenteil, außerdem sind dort rund 2000 Fälle wegen angeblicher Beleidigung des Präsidenten anhängig. In Polen, Tschechien und Ungarn dürfen neben den nationalsozialistischen auch die kommunistischen Verbrechen nicht bestritten werden. Das wiederum ist eine Gleichsetzung, die in Deutschland einst den Historikerstreit entfachte und den Gleichsetzenden als Verharmloser abstempelte.

Die Meinungsfreiheit muss Grenzen haben: Das bekommt in Deutschland nicht nur ein Thilo Sarrazin zu spüren, der – unter Mithilfe der Bundeskanzlerin – seinen Job bei der Bundesbank verlor, weil sein Buch „Deutschland schafft sich ab“ von Angela Merkel als „nicht hilfreich“ empfunden worden war. Kaum einer empörte sich.

Nein, das bekommt aktuell auch Facebook zu spüren. Denn kein anderes Land der Welt drängt so massiv darauf, Hasskommentare zu löschen. Und als unlängst ein 26-Jähriger aus Berlin-Hellersdorf das Bild des ertrunkenen Flüchtlingskindes Aylan mit dem zynischen und menschenverachtenden Satz kommentierte „Wir trauern nicht, sondern feiern es“, waren alle froh, dass die Justiz einschritt und Ermittlungen aufnahm. Die Meinungsfreiheit muss eben Grenzen haben.

Verdacht der Willkür und des politischen Interesses

Nun aber soll in der Causa Böhmermann versus Erdogan das Gegenteil gelten: Satire darf alles und Merkel nicht kuschen. Das ist die Devise. Ein Springer-Chef, der vor kurzem noch einen Stellvertretenden Chefredakteur der „Bild am Sonntag“ wegen eines islamkritischen Kommentars hatte feuern lassen (man trennte sich im gegenseitigen Einvernehmen, hieß es natürlich), springt Böhmermann mit großer Geste bei. Und man muss sich nur mal die Frage stellen, was bei Springer los wäre, wenn – Achtung, konstruiertes Beispiel! – Sarah Wagenknecht auf einer Wahlkampfveranstaltung ein gleichlautendes Schmähgedicht mit derselben vorangestellten Betonung, dass dieses illegal sei, über Benjamin Netanjahu vortragen würde, um sofort zu begreifen, dass keine noch so gut gemeinte Solidaritätsbekundung vom Verdacht der Willkür und des politischen Interesses frei ist.

Erdogan hat tyrannische Allüren, er verletzt die Menschenrechte, unterdrückt die Kurden, malträtiert die Presse- und Meinungsfreiheit. Es gibt tausend gute Gründe, ihn – um es milde zu formulieren – nicht zu mögen. Doch er, wie jeder andere, hat das Recht, sich gegen Beleidigungen zu wehren. Der Paragraph 103 StGB („Majestätsbeleidigungsparagraph“) gehört abgeschafft, aber noch ist er geltendes Recht und darum Grundlage für ein mögliches Strafverfahren, über das die Bundesregierung zur Zeit berät.

Mit einem Nein würde Merkel sich viel Ärger ersparen

Ginge es nach der Stimmung im Land, müsste Merkel laut Nein dazu sagen, weil Böhmermann auf der Beliebtheitsskala ganz weit oben und Erdogan ganz weit unten steht. Außerdem sähe sie sich bei einem Ja dem Vorwurf ausgesetzt, wegen ihrer Flüchtlingspolitik vor Erdogan eingeknickt zu sein. Ein Verfahren, das sich in die Länge zieht, würde diesen Vorwurf perpetuieren. Mit einem Nein würde Merkel sich folglich viel Ärger ersparen.

Ein Ja dagegen wäre anstrengend, aber richtig. Denn ein Rechtsstaat muss immun sein gegen Stimmungen. „Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat“, bilanzierte Bärbel Bohley die Erfahrungen einer enttäuschten DDR-Dissidentin mit einer als kalt empfundenen Justiz. Doch gerade diese Kälte, die den Gesetzestext vor die Gefühlswallungen stellt, ist die Stärke des Rechtsstaats. Er darf Journalisten, Schriftsteller, Satiriker und Künstler, wenn es um die Grenzen der Meinungsfreiheit geht, nicht privilegieren. Er sollte zwar auch Potentaten nicht privilegieren (§ 103), darf sie aber nicht wie Freiwild behandeln.

Hat Jan Böhmermann mit seinem Schmähgedicht die Grenzen der Meinungsfreiheit überschritten? Wer die Frage verneint und der deutschen Justiz vertraut, kann einem Prozess gelassen entgegensehen. Wer Zweifel hat, darf auf Klärung hoffen. Wer die Frage bejaht, aber einen Prozess ablehnt, muss plausibel begründen können, warum es gut ist, dass jemand straffrei beleidigt werden darf. Eine solche Begründung ist allerdings im Land, das sich die Reihenfolge „Einigkeit und Recht und Freiheit“ auf ihre Fahne geschrieben hat, das Recht also vor die Freiheit stellt, schwer vorstellbar.

Der Kommentar ist vor Merkels Entscheidung verfasst worden.

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