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Der Regierende Bürgermeister trägt seine Tätigkeitsbeschreibung zwar im Titel, aber meistert das Regieren auch nicht übermäßig im Sinne der Bürger.

© Gambarini/dpa

Begriffe des Grauens 2017: Alternative Unwörter des Jahres aus Berlin

Das Unwort des Jahres stammt aus Trumps Amerika. Aber in Berlin leben ein paar niedliche Artgenossen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Stefan Jacobs

Jetzt ist das Jahr 2017 endlich komplett. Nach Wort („Jamaika-Aus“) und Jugendwort („I bims“) ist nun auch das Unwort des Jahres verkündet: Die aus Trump-Country importierten, aber leider auch hier zunehmend beliebten „Alternativen Fakten“ stehen ganz oben bzw. ganz unten auf dem Treppchen, wo sie sich mit den Vorjahressiegern „Volksverräter“, „Gutmensch“, „Lügenpresse“ und weiteren AfD-nahen Zutaten tummeln und tümeln.

Einerseits mag es ein Trost sein, dass Deutschland das Unwort diesmal nicht selbst hervorgebracht hat. Andererseits gerät, wenn Lügen als besondere Form der Wahrheit geadelt werden, so viel ins Wanken, dass man etwas zum Festhalten braucht. Etwas wie die possierlichen kleinen Unwörter, die in Berlin zum Lokalkolorit gehören, aber einen als Ureinwohner auch nicht (mehr) auf die Palme bringen, weil das Klima für die bekanntlich zu rau ist und man seine Stadt und seine Schlawiner ohnehin längst durchschaut hat. Hier also als Service für Neubürger und zur Selbstvergewisserung für die Alteingesessenen die unvollkommene Liste der sprachlichen Berliner Irreführungen samt Übersetzung.

Regelmäßig begrüßt oder verabschiedet der Senat einen Fortschrittsbericht, so Ende 2017 den „über die Zusammenarbeit zwischen den Ländern Brandenburg und Berlin“. Es war der zehnte seiner Art, und die bisherige Entwicklung zeichnet sich im Wesentlichen dadurch aus, dass seit der vergeigten Länderfusion 1995 die Pendlerströme so sehr zugenommen haben, dass morgens Zigtausende im Stau stehen, weil es bis heute kein Parkkonzept für Pendler gibt. Andererseits könnten sich die Autofahrer kaum zusätzlich in die völlig überfüllten Regios quetschen, die wegen der chronischen Brandenburger S-Bahn-Phobie längst am Limit sind.

Wo wir gerade bei der S-Bahn sind: Deren Fahrzeugverfügbarkeit bleibt „angespannt“, was tägliche Überraschungen („Aus betrieblichen Gründen verkehrt diese Linie heute nicht“) bedeutet, da neue Wagen erst 2021 kommen und die alten kränkeln. Die BVG steht etwas besser da, aber es ist bestimmt kein Zufall, dass sie gerade mit großem Hallo Laufschuhe verkauft.

Mit denen kann man Unorten wie dem Kulturforum davonlaufen. Der Duden definiert ein Forum als „geeigneten Ort für etwas“, aber dieses eignet sich nur zur Flucht parallel zu den sechs Autospuren. Die in Gestalt von Philharmonie, Stabi und Neuer Nationalgalerie vorhandene Kultur bleibt leider auf der Strecke. Vielleicht wird es am Stadtschloss besser, vor dessen Entree die Einheitswippe kommt, die die Stadt und sogar den Senat spaltet. Der hat zwar neuerdings Geld, aber anhaltende Probleme mit dem Mittelabfluss. Das klingt, als müsste es noch einen rechten Abfluss geben und einen linken oder linksgrün versifften, wer weiß. Meint aber: Das Geld ist da, nur niemand, der es ausgeben kann. Da hilft kein Machtwort des Regierenden Bürgermeisters, der seine Tätigkeitsbeschreibung zwar sogar im Titel trägt, aber das Regieren auch nicht übermäßig im Sinne der Bürger meistert. Immerhin hält die Opposition, was ihr Name verspricht: dagegen, dagegen, dagegen! Laut, aber lau. Und Lauer, der Ex-Pirat, wird von der SPD verdaut. Dabei hätte er viel zu sagen, etwa zum nahenden Volksbegehren für „Videoaufklärung“. So heißt das, weil „Überwachung“ die Gefühle der Überwachten verletzen könnte. Die wollen nicht nur von Kommissar Zufall beschützt werden, sondern von den Absolventen der Polizeiakademie, die mit den Videobildern etwas anzufangen wissen – und hoffentlich das Richtige. Doch müssen die sich auch um anderes kümmern: Profilierungsfahrer etwa, die in Wahrheit überhaupt kein Profil haben, sondern höchstens einen Knacks in der Rille, und deshalb ohne Rücksicht auf Verluste durch die Stadt rasen, sofern nicht gerade die Verkehrslenkung ihren Kiez mit einer überraschenden Absperrbaken-Choreografie verkorkst hat. Das betrifft auch „Schutzstreifen“, die Radfahrer vor den Autos schützen sollten, aber tatsächlich als Egoistenparkplätze dienen. Beliebt sind diese Flächen auch bei Carsharern, die sich auch sonst um keine Regel scheren, weil Zeit Geld ist (Abrechnung im Minutentakt!). Natürlich ist das verboten, aber Berlin hat bekanntlich ein Vollzugsdefizit, das gelegentlich mit dem Erlass neuer Vorschriften kaschiert werden soll, aber dadurch in Wahrheit nur wächst: 50 000 Euro Strafe für einen unangeleinten Hund und weitere 50 000 für einen liegen gelassenen Haufen? Das wäre ein starkes Signal an die Hundeskeptiker. Und kein Problem für die Hundebesitzer, denn sie müssen garantiert nie zahlen. Auch nicht, wenn jemand beim Bürgertelefon der Polizei anruft, das mangels Personal auf dauerbesetzt geschaltet ist.

Vielleicht hat das alles auch ein bisschen damit zu tun, dass Berlin so liberal ist. Also nicht im steueroptimierten FDP-Sinn, sondern eher so, dass es niemanden interessiert, der es ändern könnte.

Zum Ausgleich gibt es Imagekampagnen und ein Geduze, dass man Behörden und Landesbetriebe am liebsten im Småland abgeben und ins Bällebad tunken möchte. Was mit der Stadtreinigung (die Böller in meiner Straße liegen übrigens immer noch, aber „Leer Force One“ auf den Müllwagen ist echt lustig) originell begann und von den Wasserbetrieben („Spülmannszug“) solide abgekupfert wurde, wird bei der BVG („Weil wir dich lieben“) allmählich anstrengend und bei der Polizei unheimlich, wenn sie sich mit dem Hashtag „Hauptstadtbullen“ versieht. Mal sehen, wann das Finanzamt das Gefühl bekommt, dass es da mithalten müsste („Weil wir dich kriegen“?). Hoffentlich nur mittelfristig. Denn das bedeutet in Berlin: nicht zu unseren Lebzeiten.

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