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Gitter und Zaun reichen nicht. Neun Menschen sind in den letzten Tagen aus der JVA Plötzensee geflohen.

© Paul Zinken/dpa

Ausbruchserie in JVA Plötzensee: Muss Berlins Justizsenator Behrendt gehen?

Tage der offenen Tür im Gefängnis: In nur einer Woche fliehen neun Gefangene aus der Berliner Haftanstalt Plötzensee. Welche Folgen hat das?

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Immerhin – einer der vier Häftlinge, die schon vergangenen Donnerstag aus der Justizvollzugsanstalt (JVA) Plötzensee geflohen waren, hat sich am Dienstag gestellt. Allerdings waren in den vergangenen Tagen aus dem Berliner Gefängnis in Plötzensee neun Männer aus dem offenen Vollzug entwichen – oder aus der Haft ausgebrochen. Bislang war von sieben Männern die Rede. Für Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) ist die Lage ärgerlich, gar politisch gefährlich: Die Opposition fordert seinen Rücktritt. Auch in der rot-rot-grünen Koalition hat der Senator, milde formuliert, nicht nur Freunde.

Was passiert mit den Häftlingen?

Die Häftlinge, die von Zielfahndern gefangen werden, wie auch diejenigen, die sich freiwillig stellen, werden weiter ihre Haftstrafen verbüßen. Ein Sprecher des Justizsenators kündigte an, dies geschehe womöglich unter strengeren Sicherheitsmaßnahmen: So werde der verurteilte Gewalttäter, der sich am Dienstag stellte, in eine Haftanstalt mit höheren Sicherheitsstandards verlegt. Die JVA Plötzensee gilt als Anstalt mittlerer Sicherheitsstufe – in Tegel, wo Schwerkriminelle einsitzen, und in Moabit, wo Untersuchungshäftlinge auf ihren Prozess warten, sind die Sicherheitsmaßnahmen strenger. Flucht an sich wird nicht bestraft, allerdings drohen den Ausbrechern vom Donnerstag wohl Verfahren wegen Sachbeschädigung und Gefangenenmeuterei. Sie hatten unter anderem einen Lüftungsschacht herausgebrochen. Auf Meuterei, also das Zusammenrotten, um „mit vereinten Kräften gewaltsam“ auszubrechen, stehen Freiheitsstrafen von drei Monaten bis zu fünf Jahren.

Wie überlastet ist Berlins Justiz?

Berlins Gefängnisse gelten im Bundesvergleich nicht als besonders unsicher. Ausbrüche sind mit Blick auf mehr als 4000 Häftlinge selten. Häufiger sind Fälle, wonach Häftlinge, die eine Geldstrafe nicht bezahlten und eine Ersatzfreiheitsstrafe absitzen, aus dem offenen Vollzug nicht in die Anstalt zurückkehren. Davon gab es nach Senatsangaben 2017 allein in Plötzensee 42 Fälle. Derzeit sitzen in der Charlottenburger Anstalt rund 360 Insassen ein.

Berlins Haftanstalten sind vergleichsweise alt, die verwinkelte Bauweise gilt als unzeitgemäß. In der Justiz selbst werden seit Jahren mehr Investitionen gefordert: „Ich wünsche mir, dass der Senat bei der Sicherheit im Justizvollzug besser hinschaut“, sagte der Landeschef des Bundes der Strafvollzugsbediensteten, Thomas Goiny. „Das fängt beim Personal an, schließt aber Bau und Technik mit ein.“ Rund 200 Bedienstete bräuchte man wohl mehr, derzeit sind knapp 1900 Beamte im Einsatz. Justizbediensteter Goiny spricht zudem von bis zu 500 Millionen Euro Sanierungsbedarf.

Auch bei Gerichten und Staatsanwaltschaften fehlt, da waren sich alle Fraktionen im Abgeordnetenhaus zuletzt einig, Personal. Der Vize-Landesvorsitzende der Deutschen Justizgewerkschaft, Ulf Melchert, sagte dem Tagesspiegel: „Wir können die Stellen einfach kaum besetzen. Uns fehlen die Köpfe. Wo sollen die herkommen? Berlin ist kaum konkurrenzfähig. Wir konkurrieren mit privaten Firmen und stehen auf Platz 17 im Vergleich mit Ländern und Bund.“ Bezüglich der Ausgebrochenen aber mache er sich allerdings keine Sorgen. „Wir kriegen sie sowieso alle wieder. Die wenigsten sind für immer abgängig.“ Dass die Ersatzfreiheitsstrafen im offenen Vollzug verbüßt würden, sei laut Melchert eine Besonderheit in Berlin. Der geschlossene Vollzug sei schlicht teurer.

Was sagt Justizsenator Behrendt?

Nach dem Ausbruch der Vierer-Truppe hatte der Senator eine „Schwachstellenanalyse“ angekündigt. Die sollte in den Tagen danach erfolgen – allerdings kamen neue Fälle von Entweichungen dazwischen. Er werde dem Parlament, so sagte Behrendt damals, „Rede und Antwort stehen“. Am Dienstag erklärte Behrendt: „Durch die Entweichungen aus dem offenen Vollzug sind Irritationen entstanden. Dies ist verständlich. Ich bedauere das. In der JVA Plötzensee kommen nun alle Sicherheitsvorkehrungen auf den Prüfstand.“ Das Personal in Plötzensee werde verstärkt. „Zudem habe ich heute eine Kommission aus internen und externen Sicherheitsexperten eingesetzt, um Schwachstellen zu analysieren und zu beseitigen. Ich bin weiterhin jederzeit bereit, den Rechtsausschuss umfassend zu informieren.“ Dieser wird wohl am 10. Januar tagen.

Was sagt die Opposition?

Für die Opposition sind die Entweichungen ein Beleg dafür, dass die rot-rot-grüne Koalition versagt. Florian Graf, Berliner CDU-Fraktionschef, erklärte: „Neun geflohene Häftlinge in fünf Tagen sind einmalig in der deutschen Justizgeschichte. Rot-Rot-Grün feiert Tage der offenen Tür für Gefangene.“ Mit seiner „nachlässigen Politik“ werde Senator Behrendt zum „eigentlichen Ausbrecherkönig“. Der Grünen-Politiker habe die Verwaltung nicht im Griff, erklärte Graf, deshalb müsse er gehen. „Der Regierende Bürgermeister, der wie üblich bei wichtigen Themen stumm bleibt, muss ihn entlassen.“

Auch FDP-Innenexperte Marcel Luthe sieht Müller am Zug, Behrendt „von seinen Aufgaben zu entbinden“. Zudem hatte Luthe den Senat zur Ausstattung der Gerichte befragt: Ein durchschnittliches Strafverfahren dauert am Landgericht in erster Instanz demnach acht Monate. Am Kammergericht, also der nächsthöheren Instanz, stiegen die Zahlen allerdings im dritten Quartal 2017 rasant von 5,3 auf 20,5 Monate an. „Die Zahlen zeigen“, sagte Luthe, „dass die Zivilgerichte genauso überlastet sind wie Sozialgerichte, wie die Straf- und wie die Verwaltungsgerichtsbarkeit“. Berlins AfD-Chef Georg Pazderski teilte mit: Wegen „der bewussten Irreführung“ der Öffentlichkeit „durch tröpfchenweise Herausgabe von Informationen“ zu den Ausbruchswellen in Plötzensee müsse Behrendt sofort gehen.

Muss der Senator nun zurücktreten?

Unwahrscheinlich. Der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) will vorerst nichts von Rücktritt hören. Müller sagte schlicht: „Der Justizsenator wird diesen Sachverhalt genau untersuchen. Wir erwarten im Senat seinen Bericht.“ Allerdings wurden durchaus Rücktrittsforderungen gegen Behrendt laut – sogar aus den Reihen seiner rot-rot-grünen Regierung. Am Montag hatte Joschka Langenbrinck, SPD-Abgeordneter, per Kurznachrichtendienst Twitter öffentlich gefordert: „7 Ausbrüche in 5 Tagen aus 1 Berliner Knast. Rekord. Wer will nochmal, wer hat noch nicht? Das wäre eigentlich ein Rücktrittsgrund für einen Justizsenator“, schrieb der Neuköllner SPD-Mann – allerdings bevor die neuen Entweichungen bekannt wurden.

Die Linke hielt sich zurück. „Herr Langenbrinck ist bestens beraten, sich lieber mit uns gemeinsam Gedanken zu machen, welche Schritte zur Verbesserung in der JVA notwendig sind“, sagte Innenexperte Hakan Tas: „Herr Behrendt macht seinen Job gut und wird ihn weiter gut machen.“

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