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Angeklagt.

© dapd

Politik: Aufgeklärt und ungelöst

Vor zehn Jahren wurde der Frankfurter Bankierssohn Jakob von Metzler ermordet. Nun macht das ZDF aus dem Fall einen Krimi – die Familie Metzler und der ehemalige Polizei-Vizepräsident Wolfgang Daschner haben daran mitgewirkt. Was sind ihre Motive?

Sie hätten das nicht tun müssen. Sie hätten ihre Persönlichkeitsrechte nicht verkaufen und erst recht nicht ihr Anwesen für Außenaufnahmen zur Verfügung stellen müssen: Die Kiesauffahrt, die Rhododendren, das Sandsteinhaus der Frankfurter Bankiersfamilie von Metzler. Es hätte ihres bleiben können.

Aber wenn am Montagabend gegen zehn Uhr ihr jüngster Sohn Jakob von Metzler im Zweiten Deutschen Fernsehen noch einmal gestorben sein wird, wenn das Kind tot und der damalige Polizei-Vizepräsident Wolfgang Daschner unter der Regie von Stephan Wagner in „Der Fall Jakob von Metzler“ noch einmal verurteilt sein wird, weil er Jakobs Mörder in einem Verhör Gewalt androhen ließ, dann ist der aufsehenerregende Mordfall vom September 2002, der heute noch Juristen umtreibt, Teil der deutschen Abendunterhaltung geworden.

Darf man das als Erfolg verstehen?

Der Mordfall war schnell aufgeklärt, aber das Dilemma des Wolfgang Daschner ist eigentlich bis heute ungelöst. Denn das Gefühl, dass in diesem Fall auch nach zehn Jahren noch etwas Relevantes unentschieden in der Schwebe bleibt, äußert sich seitdem in Filmen, Artikeln und Büchern: Die Journalistin Adrienne Lochte, der Kriminalkommissar Ortwin Ennigkeit und sogar Jakobs Mörder Magnus Gäfgen veröffentlichten Bücher mit ihrer Sichtweise. Das vergriffene Buch von Lochte ist antiquarisch auf den dreifachen Neupreis gestiegen. Auch juristisch ist das Thema nicht ausdiskutiert.

Und jetzt ist der Mordfall zu einem Krimi umgeschmolzen worden, der eigenen Gesetzen gehorcht. In Krimis wird einer für die Musik bezahlt. Im Krimi ist Spannung Lust, kein Martyrium. Die Qual des Wartens heißt „Mitfiebern“. Sein absehbarer Erfolg profitiert von der viertägigen, republikweiten Atemlosigkeit vom September 2002, die in vielen Zuschauern im Idealfall wieder abrufbar ist. Ständig oszilliert die Aufmerksamkeit zwischen Film und Erinnerung und versucht, beides in Einklang zu bringen.

Am 27. September 2002 passt der Jura-Student Magnus Gäfgen den elfjährigen Jakob von Metzler am Schultor ab. In seiner Wohnung ermordet er ihn, dann versenkt er die Leiche in einem See. Nach der Übergabe von einer Million Euro Lösegeld wird er gefasst. Tagelang hält er die Polizei mit neuen Versionen seiner Geschichte hin. In der Hoffnung, das Kind noch zu retten, lässt Wolfgang Daschner ihm schließlich Gewalt androhen.

Man muss davon ausgehen: Für Menschen, die so überlegt handeln wie die Metzlers und Daschner, muss es einen Grund geben, warum sie nun zustimmen, dass Jakobs Tod der „Fernsehfilm der Woche“ wird. Was muss das für ein Film sein? Wer darf so etwas tun? Und zu welchem Zweck? Öffentlichkeit ist für beide ja kein Ziel, sondern ein Preis, der zu zahlen ist.

Die Familie Metzler hat zu dem Mord an ihrem Sohn nie Interviews gegeben. „Warum auch“, sagt Jochen Bitzer, der das Drehbuch geschrieben hat. Wolfgang Daschner gibt auch keine Interviews mehr. Aber Bitzer hat für den Film beide getroffen. Zwei Tage lang hat Daschner ihm im Sommer 2010 Rede und Antwort gestanden: Glaubt er, Fehler begangen zu haben? Fühlt er sich ungerecht behandelt? Ist er religiös? Bereut er irgendetwas? Bitzers Frageliste war lang, sie enthielt auch jede Menge Detailfragen zur Polizeiarbeit. Er schlief dann eine Nacht, telefonierte mit seiner Frau, fragte am nächsten Tag weiter. Er musste sich eine Grundlage für die Filmfigur schaffen.

Bitzer erzählt, wie Daschner glaubte, durch das hessische Polizeigesetz gedeckt zu sein: Die Drohung sei Gefahrenabwehr gewesen, keine Folter. Daschner erzählte Bitzer, wie demütigend er es empfand, dass der Mörder als Zeuge gegen ihn aussagen durfte. Und er bekannte, seine größte Sorge, der Grund für sein monatelanges Zögern, ob er bei diesem Film mittun wollte, sei die erneute Öffentlichkeit seiner Person.

Erwartungsgemäß wird es wieder losgehen, wenn ein Film jetzt in ganz Deutschland ausgestrahlt wird.

„Ja, vermutlich“, sagt Bitzer. Deshalb werde Daschner zum Zeitpunkt der Ausstrahlung auch im Urlaub sein.

Warum aber stimmte er zu?

Zum einen, sagt Bitzer, hätte die Familie Metzler Daschner zu diesem Schritt ermutigt. Zum anderen habe ihn wohl die Sorge getrieben, dass sich künftig in der Polizei niemand mehr traue, persönlich Verantwortung zu übernehmen. Denn Daschner hatte genau das gemacht: Er hatte einfach allein entschieden. Er hatte bei seinen Plänen niemanden um Erlaubnis gefragt. Und er hatte, damit keiner auf den Gedanken käme, er habe etwas zu vertuschen, über die Androhung von Gewalt eine Aktennotiz angelegt.

Friedrich von Metzler hatte Tränen in den Augen, als er Bitzer traf, aber er sagte trotzdem: „Sie dürfen mich alles fragen.“ Bitzer war beeindruckt von diesem Menschen, „emotionaler, als Hanns Zischler ihn spielt, untypisch für einen Banker“. Aber warum ist er dabei?

„Aus einem Gefühl persönlicher Dankbarkeit heraus,“ glaubt Bitzer. Die Familie ist dankbar dafür, wie sich die Polizei für ihren Sohn einsetzte. Im Film könne man endlich verstehen, „wie Polizei wirklich arbeitet“. Er wollte ihre Arbeit verständlich machen, zeigen, unter welchen Bedingungen entschieden wird.

Und so hat Bitzer einen Wettlauf gegen die Zeit aufgeschrieben, in der das Maß der Dinge die Zeit ist, die ein gesunder, elfjähriger Junge ohne Wasser und Nahrung maximal überleben kann: vier Tage. „Noch 17 Stunden“, „Noch vier Stunden“. Das Personal des Films rennt, verhört und entscheidet gegen diese fiktive Grenze an – denn niemand kann zu diesem Zeitpunkt wissen, ob der Junge alleine ist, ob er versorgt wird oder schon tot ist.

Es ist ein ungeheuer konzentriert gespielter Film, Friedrich von Metzler und Wolfgang Daschner ähneln sich sehr im Grad ihrer Beherrschung.

2010 sprach Friedrich von Metzler mit einer Zeitung über den idealen Mitarbeiter seiner Bank: „Bei uns werden Entscheidungen nicht sozialisiert, es gibt auch keine Mails mit 80 Adressaten, damit man die Verantwortung abschiebt. Der Einzelne soll bei uns viel Verantwortung übernehmen.“ Es liest sich, als entwerfe Metzler ein Profil von Daschner.

Vier Jahre Vorlauf hatte dieser Film. Man vereinbarte Geheimhaltung, um den prozessfreudigen Magnus Gäfgen nicht herauszufordern. Gäfgen wurde informiert, Einsicht in das Drehbuch wurde ihm jedoch verweigert. Der Schauspieler Robert Atzorn erhielt eines der mit Wasserzeichen gekennzeichneten Drehbücher mit dem unverfänglichen Arbeitstitel „Frankfurt“ und unterschrieb eine Verschwiegenheitserklärung. Dann klebte er sich einen Daschner-Schnurrbart an.

Der Dreh unterschied sich von all den Derricks und Tatorten, die Atzorn zuvor gemacht hatte. „Gespenstisch, wie nah das an der Realität war“, sagt er am Telefon. „Und immer das Bild des Jungen...“ Es hing ja am Set, so wie es sich 2002 allen Nachrichten sehenden Deutschen einprägte. „Befangenheit trifft es ganz gut“, sagt Atzorn über sein Gefühl. „Schon um der Geschichte gerecht zu werden.“ Die Beteiligten leben noch.

Atzorn ist ganz auf Daschners Seite. „Ich glaube, das Gericht ist ihm nicht gerecht geworden.“ Er glaubt wie viele im Land, dass Daschner, um das Leben eines Kindes womöglich zu retten, auch Gewaltanwendung hätte erlaubt sein müssen. „Die Polizei darf schießen – das tut auch weh“, sagt er.

Je nach Umfrage haben sich 60 Prozent der Deutschen und mehr auf Daschners Seite gestellt. Sie sagen, sie hätten genau so gehandelt. „Wenn das mein Kind wäre…“ Aber „wenn das mein Kind wäre“, würden sich Eltern in Stücke reißen – das kann nicht der Maßstab sein.

„Ich hoffe, dass dieser Film dazu beiträgt, ihn zu rehabilitieren,“ sagt Atzorn und legt auf für sein nächstes Interview.

„Jeder weiß, ein Film hat immer eine starke mediale Wirkung“, sagt Nico Hofmann, der Produzent in Berlin. Da reißen alte Wunden noch einmal auf. Deshalb kann er auch Daschners Zögern gut verstehen. Seine Lösung? „Man kann nur die ganze Geschichte erzählen“, sagt er. Das war sein Angebot, möglichst jedes Zitat ist durch zwei Quellen gedeckt. Deshalb habe Daschner letztlich doch eingewilligt: „Die journalistische Herangehensweise hat ihn überzeugt.“

Hofmanns Gesamtwerk spricht für sich. Er hat auch die Entführung von Richard Oetker verfilmt. „Richard Oetker war damals hoch zufrieden.“ Oetker kennt wiederum die Metzlers.

Für Nico Hofmann ist die Welt eine Stoffsammlung: Er sieht das bundesdeutsche Leben als Drama, Tragödie oder Komödie. Von Guttenberg inszeniert er gerade als Satire, in der Figur der Bettina Wulff sieht er ein zweifaches Drama, zuerst den Fall des Bundespräsidenten, jetzt ihren. Nun hat er Metzlers Stoff, fernsehtechnisch reines Gold, umgeschmolzen zu einem Schmuckstück des ZDF.

Hofmann kennt das Zögern der Leute, ihre Angst und ihre Hoffnung. Er vermittelt an der Grenze von Selbst- und Fremdbild. Er will den Leuten und der gesellschaftlichen Relevanz gerecht werden und zugleich einen Film machen, der aus sich heraus gut ist. Und deshalb kann er jetzt in seinem Büro sitzen, umgeben von Fernsehpreisen, Urkunden und Setbildern, er kann in dieser künstlichen, hochartifiziellen Welt als Repräsentant der Illusionsmaschine Fernsehen sitzen und sagen, es ginge ihm um Wahrhaftigkeit.

Und es klingt nicht falsch.

Denn Nico Hofmann hat sich in vielen Jahren an die Grenze von Fiktion und Fakt herangerobbt. Er entwickelte einen hoch professionalisierten Workflow, eine Methode, zeitgenössisches Material zu sammeln und zu bearbeiten, das deshalb so interessant ist, weil es so ambivalent und mehrdeutig ist. Dann macht er sich juristisch unangreifbar und kommt seinen Personen menschlich entgegen.

Seit dem Film „Mogadischu“ von 2008 sammelt er Erfahrung mit Stoffen, die sich zu 80 Prozent an der belegbaren Wirklichkeit entlangarbeiten. Klarnamen kann er nur verwenden, wenn er auf dem Markt der Persönlichkeitsrechte 30 000 bis 1,5 Millionen Euro zahlt. Es sind Rechte, die jeder nur einmal verkaufen kann. Dann sind sie weg.

Hofmann führt dann Interviews. Stundenlang. Er ist auf die Mitarbeit seiner Protagonisten angewiesen, damit der Film näher an das herankommt, was man nachher eine Wahrheit nennen kann. Und weil er ihre Ängste kennt, haben die Leute in dieser Zeit noch das Recht, wieder auszusteigen. Der Einfluss reicht bis zur Freigabe der Zitate. „Und dann kommt es zum Schwur – machen wir den Film oder nicht?“

Es klappt tatsächlich nicht immer. „Das Schwierigste war Helmut Kohl“, sagt Hofmann. Das Interviewmaterial umfasste 40 Stunden. Aber dann stieg Kohl aus, weil er sich einen anderen Film versprochen hatte. „Wir haben uns in gutem Einvernehmen getrennt und den Film so gemacht, wie wir ihn machen wollten.“ Das Interviewmaterial gaben sie ihm zurück.

Nachdem Hofmann der Familie Metzler in ihrem Gästehaus den Film vorgeführt hatte, hat Friedrich von Metzler Hofmann das Du angeboten.

Eine Szene im Film zeigt Friedrich von Metzler, der Daschner im Dunkeln an einer Straßenecke erscheint. Es ist der Vorabend seiner Verhandlung. Metzler sagt, die Familie würde gerne in den Gerichtssaal kommen. „Aber unsere Juristen sagen, das könnte Ihnen schaden. – Wenn wir irgend etwas für Sie tun können….“

Möglicherweise ist das, was Friedrich von Metzler glaubt für Wolfgang Daschner tun zu können, eben genau dieser Film.

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