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Politik: Auf den Kanzler kam es nicht so an 1966–69: Als die Große Koalition regierte

Kiesinger führte die Regierung gleich starker Partner

„Die Große Koalition behagte mir keineswegs“, schrieb Willy Brandt in seinen Erinnerungen. „Doch wo wäre eine bessere Lösung gewesen?“ So sahen viele das Bündnis von Union und SPD, das von Dezember 1966 bis Oktober 1969 regierte. Es war in beiden Parteien umstritten. Die Große Koalition hatte vor allem für die SPD strategische Bedeutung. Deren graue Eminenz Herbert Wehner sah in ihr die Möglichkeit, nach der programmatischen Erneuerung („Godesberg“) nun die Regierungsfähigkeit der SPD zu beweisen – in einem Bündnis, das ohne starke parlamentarische Opposition kaum angefochten war. Allerdings gab sie der sich bildenden „außenparlamentarischen Opposition“ starken Auftrieb. Anlass für die Große Koalition war der Auszug der FDP-Minister aus der schwarz-gelben Regierung im Oktober 1966, worauf Kanzler Ludwig Erhard (CDU) einen Monat später zurücktrat.

Darauf bildete der Stuttgarter CDU-Ministerpräsident Kurt Georg Kiesinger als neuer Kanzler die Koalition mit der SPD. Der redegewandte und ausgleichende Kiesinger war der richtige Mann für das undankbare Amt. Es kam in dem Bündnis fast gleich starker Partner nämlich nicht so sehr auf den Kanzler und dessen Führung an. Oder wie der SPD-Fraktionschef Helmut Schmidt sagte: „Die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers sollte man innerhalb einer großen Koalition nicht überschätzen. Es gibt keine Richtlinien gegen Brandt und Wehner.“ Kiesinger formulierte das Lebensgesetz der Regierung angesichts der Gegensätze zwischen Union und SPD so: „Wenn es in der großen Koalition Konflikte gibt, dann sind es echte Konflikte, bei denen man entweder zu einem Kompromiss kommt oder zu einer Ausklammerung der Lösung.“ Kompromiss und Ausklammern – das prägte das Regierungsgeschäft.

Kiesinger merkte schnell, dass die übliche Kabinettsregierung mit einem starken Kanzler nicht funktionieren würde. Der Versuch, die Kompromissfindung in Fachministerrunden zu erleichtern, blieb erfolglos. Denn sie fehlte doch – die Lenkung von oben. Zudem hatte dieses Modell auch personalpolitische Tücken: Es stärkte vor allem Franz Josef Strauß, der als Finanzminister überall dabei war – im Gegensatz zu Kiesinger und Außenminister Brandt, die sich darum balgten, wer in der Außenpolitik die Akzente setzte. Strauß wurde so zum innenpolitischen Regierungschef, untermauert durch seine gute Zusammenarbeit mit SPD-Wirtschaftsminister Karl Schiller – „Plisch und Plum“ hießen die beiden bald nach zwei Hundefiguren von Wilhelm Busch.

Die Lenkung übernahm schließlich ab August 1967 der Kreßbronner Kreis, benannt nach dem Ort am Bodensee, wo die Runde erstmals tagte. Es war ein informelles Beschlussgremium, ohne Tagesordnung, ohne Protokoll. Eine meist Dienstagmorgen – einen Tag vor dem regulären Kabinett – tagende Nebenregierung, in der Kiesinger, Brandt, Wehner und Strauß sowie die mächtigen Fraktionschefs Barzel und Schmidt die Stammbesetzung gaben. Je nach Themen kamen Kabinettsmitglieder und Parteivertreter hinzu. Im Kreßbronner Kreis wurden Koalitionszwiste ausgetragen, hier wurden – an den Fraktionen vorbei – die Linien der Regierung festgeklopft.

Trotz der Gegensätze gelangen der Großen Koalition einige Erfolge. In der Außenpolitik gelang der Einstieg in die Ostpolitik, die Brandt später ausbaute. Eine Finanzreform machte Planung zum Kernelement und band Bund und Länder enger zusammen – was damals klug erschien, muss nun durch die Föderalismusreform zurückgeschnitten werden. 1968 wurde die Mehrwertsteuer in ihrer heutigen Form eingeführt – sie betrug zunächst zehn Prozent. Mit dem Stabilitätsgesetz und großen Konjunkturprogrammen wurde die Rezession bekämpft und die Arbeitslosigkeit wieder unter ein Prozent gedrückt. Auch eine liberale Strafrechtsreform gelang. Und mit der Konzertierten Aktion begann eine Phase der engen Kooperation von Politik, Arbeitgebern und Gewerkschaften.

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