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Eine Frau trägt in der Zeltstadt der Erstaufnahmeeinrichtung auf dem Flugplatz in Bitburg ihr Kind auf dem Arm.

© dpa

Asylrecht-Debatte: Wollen wir Platz eins bei der Abschreckung von Flüchtlingen?

Richard Schröder forderte an dieser Stelle ein schärferes Durchgreifen. Juraprofessor Michael Fehling sagt: Statt ein diffuses Bedrohungsgefühl zu kreieren, sollten wir Chancen und Risiken differenziert diskutieren. Ein Gastkommentar.

Richard Schröders Beitrag zur Flüchtlingsdebatte lässt aufhorchen. In seltener Ausführlichkeit legt er die rechtlichen Hintergründe dar und zieht daraus in scheinbar analytisch kühler Sachlichkeit seine Schlussfolgerungen. Mit der Autorität eines Wissenschaftlers und Theologen will Schröder uns Mut machen: Recht und Moral, so lernen wir, sind auf unserer Seite, wenn wir Deutschen zum Schutz des Sozialstaats und unserer Kultur "durchgreifen" und den "Schlendrian" beim Vollzug des Asylrechts beenden. Gelebte Solidarität mit Flüchtlingen also doch nur ein schöner Traum fernab der rechtlichen, ökonomischen und sozialen Realität?

Eine kritische Erwiderung muss zunächst am rechtlichen Kern von Schröders Argumentation ansetzen. Selbstverständlich ist vieles auch aus Sicht des Rechtswissenschaftlers gut zusammengetragen, doch in der Gesamtschau trifft es nicht den Kern. Das Recht auf Asyl ist im Grundgesetz nicht nur "in seinem Wesensgehalt geschützt", sondern im vollen dort umschriebenen Umfang. Die auf einen bloßen Kern bezogene Wesensgehaltsgarantie ist die Grenze für eine Verfassungsänderung. Solange das Asylrecht im Grundgesetz selbst unverändert bleibt, kann es durch den Gesetzgeber gerade nicht eingeschränkt werden.

In Schröders Bild bedeutet dies: Soweit das Asylrecht reicht, muss die Wohnung Deutschland geöffnet werden, obwohl es kein Menschenrecht auf Einwanderung gibt. Wer an der Grenze "Asyl ruft", der muss zwecks Prüfung seines Asylantrags zumindest vorübergehend eben doch "einreisen dürfen". Entgegen seinen ersten Formulierungen räumt Schröder dieses Recht auf einen Aufenthaltstitel für die Dauer seines Asylverfahrens an späterer Stelle auch selbst ein. Dies gilt auch dann, wenn weit mehr Asylbewerber kommen, als es sich die Verfassungsväter und -mütter vorstellen konnten.

Gewiss "gibt es durchaus ohne Verletzung von Art. 16 Grundgesetz verschiedene Verfahrensweisen" um festzustellen, wer tatsächlich asylberechtigt ist. Aber diese Prüfung darf nicht zu Abschreckungszwecken missbraucht werden. Eine vorschnelle Sortierung nach "guten" politischen und "schlechten" Wirtschaftsflüchtlingen anhand pauschaler Kriterien stößt dabei schnell an verfassungsrechtliche Grenzen; eine Prüfung des Einzelfalls bleibt letztlich unverzichtbar.

Juristisch ausgedrückt geht es um Grundrechtsschutz durch Verfahren. Dies ist ein Kerngehalt unserer Verfassungsordnung. Deshalb dürfen auch die Aufenthaltsbedingungen nicht zwecks "lästige[r] Alternative" beliebig abgesenkt werden. So hat das Bundesverfassungsgericht zum damaligen Asylbewerberleistungsgesetz unmissverständlich deutlich gemacht, dass für Asylbewerber keine geringeren Anforderungen an das Existenzminimum gestellt werden dürfen als für deutsche Hartz IV-Empfänger. Ohnehin verwundert es doch sehr, dass die Menschenwürde als Fundament des Grundgesetzes dem Theologen Richard Schröder in seiner sehr ausführlich juristisch eingekleideten Analyse nur eine ganz beiläufige Erwähnung wert ist.

Auch die Menschenwürde von Wirtschaftsflüchtlingen ist unantastbar

Dieselbe unantastbare Menschenwürde steht auch Wirtschaftsflüchtlingen zu und muss die Abschiebungspraxis mit prägen. Gewiss ist "nicht jede Haft eine Strafe". Die von Schröder beiläufig erwähnte "Schutzhaft" war indes eine euphemistische Umschreibung des NS-Regimes für die Inhaftierung politisch Oppositioneller (wie etwa Carl von Ossietzky) und hat deshalb im bundesdeutschen Rechtsstaat keinen Platz  Manchen, nicht nur viele (Regierungs-)Politiker, mag die Forderung nach konsequenterer Abschiebung abgelehnter Asylbewerber überzeugen.

Statt einseitig den "Schlendrian" zu geißeln, muss man dabei stets auch die rechtlichen Grenzen im Blick behalten, die Schröder an anderer Stelle durchaus erwähnt, ohne aber daraus die notwendigen Schlüsse zu ziehen: Individuelle (Gesundheits-)Gründe, vor allem aber massive Gefahren für Leib und Leben durch Krieg und Gewalt in den Heimatstaaten, Menschenwürde und völkerrechtliche Verpflichtungen lassen auch hier kein einfaches pauschales "Durchgreifen" zu. Und die Befristung des prekären Duldungsstatus hilft niemandem, wenn Krieg und Gewalt perspektivlos fortdauern.

Die Bedenken gegen Richard Schröders Analyse wachsen, wenn man auf seine Beschreibungen der Realität schaut. Gewiss, der Reichtum an Beobachtungen beeindruckt. Doch bei genauerem Hinsehen nähert sich manches allzu sehr bekannten Stereotypen an.

Zunächst arbeitet er heraus, dass das "Existenzminimum eines blühenden Wohlfahrtsstaats" "ein Vielfaches des Durchschnittseinkommens sehr vieler Länder beträgt". Sodann hebt er den hohen Anteil an Wirtschafts- und Armutsflüchtlingen hervor ("namentlich Afrikaner, die eigentlich einwandern wollen"), beklagt im Anschluss Falschangaben im Asylverfahren und betont zu guter Letzt betont, es seien gar nicht die Menschen in existenzieller Armut ("untere Mittelschicht"), die zu uns kommen. In der Gesamtschau droht man deshalb zu assoziieren: Ein zentrales Problem besteht im massenhaften betrügerischen Asylmissbrauch besonders von Afrikanern, die sich einfach nur mehr Wohlstand auf Kosten deutscher Sozialkassen erhoffen.

Die Grenzen zwischen politischer Verfolgung und wirtschaftlicher Not sind fließend

Dass es einer bedrückenden existenziellen Perspektiv- und Hoffnungslosigkeit bedarf, damit Menschen ihre Heimat verlassen und sich auf eine lebensgefährliche Reise mit gänzlich ungewissem Ausgang begeben, gerät dabei allzu leicht aus dem Blick. Und ebenso droht man zu vergessen, dass die Grenzen zwischen "echter" politischer Verfolgung, Kriegsfolgen und wirtschaftlicher Not in der realen Welt oft fließend sind. Gewiss, jede der zitierten Einzelaussagen erscheint für sich genommen noch diskutabel. Doch in der Argumentationskette schaffen sie einen Subtext, der verstört.

Dies gilt schon für den eingängigen Vergleich des Staatsgebiets mit einer Wohnung. Eigentlich nutzt Schröder dieses Bild nur, um zu verdeutlichen, dass es "kein Menschenrecht auf Einwanderung [gibt]". Doch unterschwellig wird zugleich suggeriert, ein Flüchtling könnte vielleicht schon in Kürze vor der eigenen Haustür stehen und Einlass begehren. So wird aus dem gesellschaftlichen Integrationsproblem scheinbar eine Bedrohung der individuellen Privatsphäre.

Wenn ferner die unproblematische Integration von "Zuwanderer[n] aus europäischen Ländern" betont, die Bedeutung "unsere[r] Üblichkeiten oder, etwas hochtrabend, unsere Alltagskultur" herausgestrichen und gleichzeitig das Problem afrikanischer Wirtschaftsflüchtlinge ("viele Flüchtlinge Analphabeten") mit erhöhtem kulturell-ethnischen Konfliktpotential ins Zentrum gerückt werden, so legt dies, vielleicht unbewusst, einen Umkehrschluss nahe: Diese Menschen aus fremden Kulturen außerhalb des christlichen Abendlandes sind ein dauerhafter Fremdkörper in unserer (Leit-)Kultur und vielfach kaum integrierbar.

Aus den Problemen der Flüchtlinge könnten auch Lösungsansätze entstehen

Für eine differenzierte Diskussion über Chancen und Risiken einer kulturell vielfältigeren Gesellschaft ist dies wenig hilfreich. Zugegebenermaßen: Manche der hier herausgegriffenen und ähnlichen Aussagen werden in anderen Textstellen durchaus ein Stück weit relativiert. Doch diese Differenzierungen fließen kaum in die übergreifende Argumentation ein, sie werden für Schröders Schlussfolgerungen nicht prägend.

Sodann ist es der allgemeine Duktus des Textes, der zusätzlich besorgt macht. Er beschwört letztendlich recht unbestimmte, abstrakt bleibende Gefahren: die Überforderung des deutschen Sozialstaats und unserer Kultur durch unkontrolliert-massenhaften Zustrom von immer mehr Flüchtlingen. Doch je diffuser und gleichzeitig existenzieller eine Bedrohung erscheint, umso weniger ist sie einer nüchternen Analyse und differenzierten Bewältigungsstrategie zugänglich. So bleibt scheinbar nur eine, ebenso pauschale Rettung: Durchgreifen und die Spreu vom Weizen trennen.

Ganz anders sähe es aus, wenn man die konkreten Probleme der vielen Flüchtlinge in den Vordergrund rücken würde. Dann wäre konkret über sozialen Wohnungsbau, über Integration in Schule und Beruf, über Strategien zur Schaffung von Arbeitsplätzen zu diskutieren. Bei den Asylverfahren würde vor allem die Heranbildung und Rekrutierung zusätzlichen Personals zur Verfahrensbeschleunigung in den Fokus rücken. Die diffuse Angst, das Boot drohe zu voll zu werden (so dass nach Schröder in letzter Konsequenz, wenn auch noch nicht derzeit, "wohl Notbestandsbestimmungen Anwendung finden [müssten]"), könnte einer Folgenanalyse weichen.

Wir müssen auch an längerfristige Vorteile denken

Dabei müssten Finanzierungsüberlegungen eine zentrale Rolle spielen. Zwar dürfen wir die Aufnahme von Asylsuchenden nicht nach finanziellen Nützlichkeitserwägungen steuern. Umso wichtiger wäre aber die Einbeziehung auch längerfristiger wirtschaftlicher Vorteile, wenn es in der Gesamtbilanz um die finanziellen Auswirkungen der Integration und die Belastung unseres Sozialstaats geht. All dies ist Richard Schröders Sache nicht. Vor diesem Hintergrund darf man sich fragen, ob er seinen intellektuellen Anspruch, die Diskussion zu versachlichen, wirklich einlösen kann.

Seit der Befreiung vom Nationalsozialismus haben alle Regierungen es als ihre Aufgabe betrachtet, Deutschland wieder als weltoffenes, lebenswertes Land zu präsentieren, in dem Menschen unabhängig von ihrer Herkunft willkommen sind, und sei es zunächst im Wesentlichen auch nur als Gäste. Sollen wir in Anbetracht der vielen Flüchtlinge nun umgekehrt mit unseren europäischen Nachbarn in einen Wettbewerb um die schlechtesten Aufnahmebedingungen zur Abschreckung potentieller Flüchtlinge eintreten? Auch diese Frage harrt trotz oder gar wegen Richard Schröders Debattenbeitrag noch einer Beantwortung.

Michael Fehling ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht an der Bucerius Law School in Hamburg.

Michael Fehling

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