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Nach den Weihnachtsanschlägen auf Kirchen in Nigeria.

© REUTERS

Al Qaida in Afrika: Der afrikanische Dschihad

Islamistische Tendenzen gibt es in Nigeria seit 200 Jahren. Heute vergeht kaum ein Tag ohne offene Gewalt. Wer sind die Rädelsführer?

Maiduguri gleicht einer Geisterstadt. Mehr als ein Jahr lang haben junge Männer auf Motorrädern Polizisten oder Kritiker der islamistischen Sekte Boko Haram erschossen. Sie haben Bomben in Biergärten gelegt und immer wieder Polizeistationen angegriffen. Aus der lebendigen Universitätsstadt im Nordosten Nigerias, der Hauptstadt des Bundesstaats Borno, sind seit Anfang 2010 zehntausende Menschen Richtung Süden geflüchtet, berichtet der Internal Displacement Monitor. Mitte 2011 kam die Angst dann auch in der Hauptstadt Abuja an. Die Journalisten der größten Tageszeitung Nigerias, des „Guardian“, arbeiten seit knapp zwei Wochen nicht mehr in ihren Büros. Denn Boko Haram hat vor wenigen Tagen die Redaktionen mehrerer großer Zeitungen angegriffen und bedroht nun auch den „Guardian“. In der Haupstadtredaktion der südnigerianischen Blattes „This Day“ ist ebenso eine Bombe explodiert wie beim nordnigerianischen „Daily Trust“.

Einige afrikanische Staaten haben schon vor dem 11. September 2011 dramatische Erfahrungen mit Al Qaida gemacht. Der Doppelanschlag auf die amerikanischen Botschaften in Nairobi und Daressalam war der erste weltweit beachtete Terroranschlag des Netzwerks mit mehr als 200 Toten. Kenia wurde seither mehrfach Opfer von Terroranschlägen, insbesondere, seit die keniaische Armee im vergangenen Herbst nach Somalia einmaschiert ist, um Al Schabab zu bekämpfen. Auch Uganda hat traurige Erfahrungen mit Al Schabab gemacht. Das Land stellt einen Großteil der Friedenstruppen der Afrikanischen Union in Somalia. Beim Endspiel der Fußballweltmeisterschaft 2010 explodierten Bomben auf einem Rugbyfeld, wo Fans das Spiel beoachteten und in einem äthiopischen Restaurant in Kampala. 80 Menschen starben.

Seit Mitte 2011 vergeht in Nigeria kaum eine Woche ohne Anschläge, zu denen sich Boko Haram bekennt. Der Name hat sich durchgesetzt, weil die Bevölkerung im Nordosten Nigerias die Gruppierung so nennt. In Hausa, der im Norden überwiegend gesprochenen Sprache, bedeutet Boko Haram so viel wie „westliche Bildung ist böse“ oder „verboten“. Die wohl 2002 von Mohammed Yusuf gegründete Sekte nennt sich selbst dagegen Jama’atu Ahlis Sunna Lidda’awati wal-Jihad, was in etwa „Personen, die die Lehren und den Dschihad des Propheten weitertragen“ bedeutet.

Yusuf hatte die Schule abgebrochen und nach religiösen Studien im Nachbarland Tschad zu predigen begonnen. Er hatte Erfolg und bald viele Anhänger. Hunderte Studenten sollen 2004 ihre Zertifikate zerrissen oder verbrannt und sich Boko Haram angeschlossen haben. Yusuf gründete in Maiduguri eine Moschee und eine Koranschule, bald kamen hunderte unterbeschäftigte oder arbeitslose junge Männer, um ihn predigen zu hören. Professor Isaac Olawale Albert, Konfliktforscher an der Universität von Ibadan, schreibt in einem Papier für die Heinrich-Böll-Stiftung, Yusuf sei von den politischen wie geistlichen Würdenträgern vor allem deshalb gehasst worden, weil er in seinen Predigten über Lautsprecher die Namen derjenigen Politiker nannte, die das Volk ganz besonders dreist ausplünderten. Albert schreibt, die Interviews, die er im Februar und März 2010 in Maiduguri geführt habe, hätten ergeben, dass der Hauptfeind von Boko Haram nicht die „westliche Bildung“ sei, sondern „wohl eher nordnigerianische Spitzenpolitiker, die durch ihren Führungsstil bewiesen haben, dass westliche Bildung für diejenigen außerhalb der regierenden Elite nicht allzu nützlich ist.“

Ausgerechnet ein Gesetz, das den Verkehr hätte sicherer machen und eine der Haupttodesursachen hätte vermindern sollen, eine Helmpflicht für Motorradfahrer, löste 2009 schließlich die Krawalle aus, an deren Ende mindestens 700 Sektenmitglieder und Bewohner Maiduguris und weiterer Städte im Nordosten getötet wurden. Yusuf und seine Anhänger hatten in mehreren Bundesstaaten Polizeistationen angegriffen. Er selbst war ins Haus seines Schwiegervaters geflüchtet, wurde dort verhaftet und im Polizeigewahrsam ohne Gerichtsurteil getötet. Erst im Januar 2012 wurden dafür fünf Polizisten verurteilt, die Familie Yusufs bekam eine Entschädigung von 100 Millionen Naira (rund 480 000 Euro).

Im September 2010 überfielen Anhänger der Sekte das Gefängnis von Maiduguri und befreiten 700 Häftlinge, darunter 150 ihrer Mitglieder. Zum Jahreswechsel 2010 attackierten Boko-Haram-Anhänger einen beliebten Biergarten in Abuja. Klaus Pähler, der Büroleiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Abuja, schreibt in seiner aktuellen Analyse: „Als in Abuja lebender Ausländer konnte man das lange als Donner in der Ferne aus dem alltäglichen Bewusstsein verdrängen.“ Mit dem Anschlag auf den Biergarten endete diese Sicherheit. Bei den Weihnachtsanschlägen 2011 auf mehrere christliche Kirchen starben Dutzende Menschen. Boko Haram sprach zudem ein Ultimatum aus, bis zu dem alle Christen den Norden Nigerias verlassen haben sollten. Das Ultimatum verstrich zwar, doch die Serie der Anschläge reißt nicht ab, die letzte am ersten Maiwochenende.

Im Januar schlug Boko Haram in Kano zu, der zweitgrößten Stadt Nigerias im Norden des Landes. Zwischen 30 und 50 Bomben gingen nahezu zeitgleich in Polizeistationen hoch. George Ehusani, der frühere Generalsekretär der nigerianischen Bischofskonferenz vermutet, dass Boko Haram in Kano eigene Anhänger befreien oder zumindest an einer Kooperation mit der Polizei hindern wollte: „Die haben den Tod ihrer Kampfgenossen in Kauf genommen, um zu verhindern, dass diese wichtige Informationen ausplaudern könnten.“

Für die nigerianische Regierung hat Boko Haram kein Gesicht

Bis heute weiß die nigerianische Regierung nicht, mit wem sie es genau zu tun hat. Zwar tritt seit diesem Jahr Scheich Abubakar Imam Schekau in Al-Qaida-Manier vor weißem Hintergrund mit Kalaschnikows links und rechts als neuer Chef der Truppe auf. Die Sicherheitsbehörden hatten angenommen, Schekau wäre beim Massaker 2009 getötet worden. Doch ob Boko Haram tatsächlich eine straff organisierte islamistische Terrortruppe oder eher ein Netzwerk aus regional eigenständigen Gruppierungen ist, weiß niemand. „Wir wissen, dass sie Nigerianer sind“, sagte Nigerias Präsident Goodluck Jonathan, als er Mitte April in Berlin war, „aber gegenwärtig haben sie kein Gesicht.“

Die Gesichtslosigkeit der Terrortruppe führt zu allerlei Legenden, für die es mehr oder weniger plausible Hinweise gibt. Westliche Sicherheitsexperten mutmaßen schon seit 2010, dass Boko Haram ein Ableger des internationalen Terrornetzwerks Al Qaida sei. Das hält auch der Think Tank International Crisis Group für plausibel, obwohl er in seinem Bericht über die Konfliktlage im Norden Nigerias 2010 selbst vor einer Überschätzung warnt. Wörtlich heißt es da: „Offizielle im Westen sollten ihre Ängste vor einem radikalen Islam in eine viel nigerianischere Perspektive rücken.“ Der südafrikanische Think-Tank Institute for Security Studies (ISS) sieht mit dem Anschlag auf die UN in Abuja Boko Harams Entwicklung von einer lokalen Terrorgruppe zum internationalen Handlanger von Al Qaida als vollendet an. Auch andere Al-Qaida-Ableger hätten ihr Bekenntnis zum Terrornetzwerk mit einem Anschlag auf die Vereinten Nationen verbunden. So im Irak, Algerien oder Afghanistan. Tatsächlich hat Scheich Schekau in einem Youtube-Video Anfang des Jahres erklärt, Boko Haram gehöre zu Al Qaida. Allerdings: Diese Deutung hat für alle Beteiligten nur Vorteile und macht deshalb stutzig. Boko Haram kann sich mit seinem Bekenntnis zu Al Qaida international interessant, gefährlich und groß machen. Die nigerianische Regierung kann das Problem mit dem Hinweis auf den internationalen Terror als innenpolitische Krise verleugnen und westliche Hilfe für den Sicherheitsapparat verlangen – Staatspräsident Goodluck Jonathan hat das auch einige Monate lang getan. Und der Westen schließlich verfügt mit dem Topos Al Qaida über eine einleuchtende Erklärung für die Terroranschläge in Nigeria. Unions-Fraktionschef Volker Kauder hat dieser Erzählung noch den Begriff „Christenverfolgung“ hinzugefügt – auch das passt ins Weltbild, wenngleich es, wie Klaus Pähler vornehm feststellt, „etwas zu kurz greift“.

Das sieht inzwischen offenbar auch Goodluck Jonathan so. Zwar behauptete er in Berlin, die Boko-Haram-Krise werde bald überwunden sein. Nigeria habe zwar schon lange hohe Kriminalitätsraten zu beklagen gehabt, „aber die Herausforderung des Terrorismus ist neu für uns.“

Jonathan sieht Boko Haram im regionalen Kontext West- und Nordafrikas. Hier ist es sehr leicht, an Waffen heranzukommen. Die Zentralsahara im Länderdreieck Mali, Niger, Mauretanien gilt als rechtsfreie Zone. Dort führen die wichtigsten Kokain-Schmuggelrouten von Südamerika über die Westküste Arikas durch die Wüste bis nach Libyen, Tunesien und Ägypten und von dort nach Europa. Gehandelt werden aber auch illegal gezapftes Erdöl oder Menschen – als Sklavenarbeiter und Zwangsprostituierte. In diesem Gebiet hat nur eine Organisation noch eine Teilkontrolle: Al Qaida im islamischen Maghreb (AQIM). Die Truppe finanziert sich neben dem Kokainschmuggel vor allem mit westlichen Geiseln. Mehrere in Nordnigeria entführte Europäer sind offenbar von Boko Haram an AQIM übergeben oder verkauft worden. Das stärkt die These, dass zwischen beiden Terrorgruppen engere Beziehungen bestehen. Westliche Geheimdienste behaupten zudem, dass Boko-Haram-Kämpfer auch in Lagern der somalischen Islamistengruppe Al Schabab trainiert worden sein könnten. Sowohl AQIM als auch Al Schabab haben sich selbst als Al- Qaida-Außenstellen bezeichnet.

Viele Nigerianer haltes es für weitaus plausibler, dass Boko Haram eine Reaktion auf die wirtschaftliche Marginalisierung des Nordens ist. In den zwölf Bundesstaaten, die seit 2000 das islamische Recht, die Scharia, eingeführt haben, leben mehr als 80 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze von einem Dollar am Tag. „Wer nicht in die Schule gehen will …“, sagte Jonathan in Berlin und ließ den Satz unvollendet. „Boko Haram hat nicht gestern begonnen. Und zu Beginn ging es auch nicht um Korruption. Boko Haram will das islamische Recht überall durchsetzen. Aber die Anwendung islamischen Rechts auf Christen ist nicht möglich, weil Nigeria ein säkularer Staat ist.“ Boko Haram lehne westliche Bildung ab, „weil sie nicht von Allah kommt und weil sie mit Korruption gleichgesetzt wird“, analysierte Jonathan. Nicht nur der nigerianische Präsident vermutet Unterstützer von Boko Haram bis in Regierungskreise hinein. Jedenfalls ließ er das bei einem Gedenkgottesdienst nach den Weihnachtsanschlägen durchblicken. Im Norden wird für möglich gehalten, dass der christliche Süden Boko Haram habe stark werden lassen, um das Land zu spalten. Im Süden behauptet man das glatte Gegenteil.

Das Anti-Korruptions-Motiv jedenfalls kennt Marloes Janson aus der Geschichte. Sie forscht derzeit am Zentrum Moderner Orient über den gleichzeitigen Aufschwung evangelikaler Kirchen und radikaler islamischer Sekten in Nigeria und verweist darauf, dass die westlichen Staaten, insbesondere die ehemalige Kolonialmacht Großbritannien, die dschihadistischen Bewegungen im Norden Nigerias „nie richtig ernst genommen hat“. Der im Norden Nigerias praktizierte Islam wurde als „Islam Noire“ bezeichnet, der im Gegesatz zum „Islam Arab“ als „weniger strenge Auslegung galt, bei der spirituelle Elemente im Vordergrund stehen“.

Dabei hat ein Dschihad – zunächst darauf angelegt, den Isalm von westlichen Einflüssen zu reinigen – Anfang des 19. Jahrhunderts schon unter der Führung von Schehu Usman dan Fodio zur Gründung des Kalifats von Sokoto geführt. In der Tradition dieses glorreichen Kalifats sieht sich die nordnigerianische Führungselite bis heute. Deshalb kann sie auch den christlichen Präsidenten Jonathan aus dem Nigerdelta nicht akzeptieren. Hinzu kommt, dass die im Norden herrschenden Hausa-Fulani auf die schwarzafrikanischen Christen traditionell herabsehen. Das Kalifat von Sokoto war eine Sklavenhaltergesellschaft, die Fulani-Aristokratie hatte jahrhundertelang Schwarzafrikaner aus dem Süden in ihren Baumwoll- und Erdnussplantagen schuften lassen.

Die großen Handelsstädte im Norden waren durch den Sklavenhandel vom 11. Jahrhundert an überhaupt erst zu ihrem Reichtum gekommen. Selbst die britische Kolonialmacht, die in Nigeria bis zur Unabhängigkeit 1960 eine indirekte Herrschaft über die traditionellen Eliten ausübte, hat die Sklaverei im Norden Nigerias erst 1936 abgeschafft. Dass die unabhängige Herrschaft des Kalifats von Sokoto nach gut 100 Jahren zur Jahrhundertwende 1903 durch die Briten beendet wurde, und die unter britischer Flagge kämpfenden Soldaten nigerianische Christen aus dem Süden waren, ist eine Niederlage, die in Nordnigeria bis heute schmerzt.

All das hat schon 1980 mitten in der Militärdiktatur ebenfalls im Norden Nigerias eine islamistische Revolte ausgelöst, die als Maitatsine in die Geschichte eingehen sollte. Angeführt wurde diese radikale Bewegung zur „Reinigung des Islam“ von Muhammadu Marwa, einem Kameruner, der sich selbst zum Propheten erklärte. Der Aufstand begann in der zweitgrößten Stadt Nigerias, Kano. Muhammadu Marwa wurde im Verlauf der Kämpfe getötet. Marloes Janson verweist auf die Parallelen zwischen der Maitatsine-Bewegung und Boko Haram. Mohammed Yusuf stand in der radikalen Tradition der Maitatsine. Die Radikalisierung in jüngster Zeit, da sind sich fast alle Experten einig, ist vor allem der brutalen Niederschlagung der Revolte von 2009 zu verdanken. Die Forderungen Boko Harams gehen allerdings selten über die Befreiung von Glaubensbrüdern aus dem Gefängnis hinaus. Ob Boko Haram tatsächlich für alle Anschläge und Angriffe der vergangenen eineinhalb Jahre verantwortlich ist, für die die Truppe in Haftung genommen wird, ist so offen wie die Frage, wer genau sich dahinter verbirgt.

Eines hat die Truppe jedenfalls schon geschafft: Der Etat für die Polizei und die Armee Nigerias ist 2012 auf 20 Prozent des Gesamthaushaltes erhöht worden.

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