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Alles bereit? Türkische Flaggen vor einem Auftritt von Ministerpräsident Binali Yildirim im Februar in Oberhausen.

© Sascha SchürmannAFP

Abgesagte Wahlkampfauftritte: Deutschland und die Türkei - wie soll es weitergehen?

Die Beziehungen zwischen Berlin und Ankara stecken in einer tiefen Krise. Wie gefährlich kann der Konflikt werden? Fragen und Antworten zum Thema.

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Das ohnehin schwer belastete Verhältnis zwischen Berlin und Ankara hat einen neuen Tiefpunkt erreicht. Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan warf am Freitagabend dem inhaftierten „Welt“-Korrespondenten Deniz Yücel Spionage vor. „Als ein Vertreter der PKK, als ein deutscher Agent hat sich diese Person einen Monat lang im deutschen Konsulat versteckt“, sagte Erdogan nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu auf einer Veranstaltung in Istanbul.

Die Bundesregierung hat die Spionagevorwürfe umgehend zurückgewiesen. „Das ist abwegig“, hieß es aus dem Auswärtigen Amt in Berlin. Bereits im Laufe des Tages war der Konflikt zwischen der Türkei und Deutschland eskaliert, nachdem die Städte Gaggenau und Köln türkischen Ministern Wahlkampfauftritte verwehrt hatten. Die türkische Regierung drohte Deutschland mit Konsequenzen. „Wenn nötig, werden wir eine Antwort in jeder Weise geben“, sagte Außenminister Mevlüt Cavusoglu. Der türkische Justizminister Bekir Bozdag nannte die Absage eine „faschistische Maßnahme“.

Die Stadt Gaggenau hatte eine Wahlkampfveranstaltung mit Bozdag wegen Sicherheitsbedenken untersagt. Die Behörden in Köln stoppten zudem einen für Sonntag geplanten Auftritt des türkischen Wirtschaftsministers Nihat Zeybekci. Beide Minister wollten vor türkischen Wahlberechtigten dafür werben, im April beim Referendum für die Einführung eines Präsidialsystems zu stimmen. Nach der Absage in Köln wollte Zeybekci nun am Sonntag im nahen Frechen vor Anhängern der Regierungspartei AKP sprechen. „Ich werde am Sonntag wieder nach Deutschland reisen. Ich werde die mir befohlene Reise antreten, und wir sagen, der Sieg ist Allahs“, kündigte er an. Allerdings wurde laut Polizei auch diese Veranstaltung inzwischen abgesagt.

Der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland, Aiman Mazyek, zeigte sich bestürzt über die Schärfe der Auseinandersetzung. „Es ist unverantwortlich, den Streit derart zu eskalieren“, sagte er dem Tagesspiegel. Beide Seiten müssten in einen Dialog treten, anstatt sich gegenseitig zu dämonisieren. „Ich appelliere an alle Politiker auf beiden Seiten, alles zu tun, damit das deutsch-türkische Verhältnis sich nicht weiter verschlechtert“, sagte er. „Darunter leiden insbesondere die Deutsch-Türken hierzulande erheblich.“

Dürfen ausländische Politiker in Deutschland Wahlkampf machen?

Ja, das dürfen sie. Das Grundgesetz garantiert Meinungsfreiheit auf deutschem Boden auch allen Besuchern. Praktisch ausformuliert ist die Verfassungsgarantie im Paragraf 47 des Aufenthaltsgesetzes: „Ausländer dürfen sich im Rahmen der allgemeinen Rechtsvorschriften politisch betätigen.“

Allerdings enthält der gleiche Paragraf zugleich eine Reihe von Einschränkungen. Untersagt werden darf diese Betätigung, wenn sie das „friedliche Zusammenleben von Deutschen und Ausländern“ oder die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährden könnten, wenn sie den außenpolitischen Interessen der Bundesrepublik zuwiderlaufen oder Bestrebungen und Parteien im Ausland fördern sollen, „deren Ziele oder Mittel mit den Grundwerten einer die Würde des Menschen achtenden staatlichen Ordnung unvereinbar sind“.

Aber erfüllt nicht die Politik des türkischen Präsidenten genau dieses Kriterium?

Politisch herrscht in Deutschland über alle Parteien hinweg Einigkeit, dass Recep Tayyip Erdogan das Kriegsrecht nach dem gescheiterten Putsch missbraucht, um die Opposition zu unterdrücken und seine Macht auszuweiten. Andererseits will der türkische Präsident das Präsidialsystem nicht etwa per Dekret einführen, sondern sein Volk darüber abstimmen lassen. Und wie bei Wahlen auch bereitet die Bundesregierung alles Nötige vor, damit seine Landsleute in Deutschland an dem Votum teilnehmen können.

Ob Erdogans Bestrebungen inhaltlich ein Auftrittsverbot rechtfertigen würden, will die Bundesregierung derzeit nicht beurteilen. Außenamtssprecher Martin Schäfer wies am Freitag darauf hin, dass sich mit genau dieser Frage derzeit die Venedig-Kommission des Europarats beschäftigt. Das Gremium will nächste Woche seine Bewertung vorlegen. Kritikern dieses Abwartens hält die Regierung das Grundrecht auf Meinungsfreiheit entgegen. Die gebiete es, andere Meinungen auszuhalten, „auch wenn’s weh tut“, betont Schäfer. „Wir leben hier, was wir von anderen fordern“, sagt auch Vize-Regierungssprecherin Ulrike Demmer.

Kanzlerin Angela Merkel selbst weist denn auch die türkischen Vorwürfe energisch zurück, die Versammlungsverbote seien politisch motiviert oder quasi aus Berlin angeordnet: Deutschland sei föderal organisiert, und für Fragen der Sicherheit und Ordnung bei Veranstaltungen seien zuerst die Kommunen zuständig.

Agiert die Bundesregierung zu vorsichtig, weil sie fürchtet, dass das Flüchtlingsabkommen platzt?

Diese Lesart ist eingängig, zumal türkische Politiker schon oft mit der Kündigung des Pakts mit der EU gedroht haben. Gefolgt ist solchen Drohungen bisher nichts. Tatsächlich sehen deutsche Diplomaten sie gelassen: Die Türkei habe zu viel Eigeninteresse an dem lukrativen Abkommen, um es aufs Spiel zu setzen. Schließlich überweist die EU viele Milliarden Euro, um die Lage der Flüchtlinge dort zu verbessern.

Umgekehrt betont die Bundesregierung immer wieder das gemeinsame Interesse an vernünftigen Beziehungen mit dem Nato-Partnerstaat. Es könne weder im Interesse Berlins noch Ankaras sein, „in Sprachlosigkeit zu verfallen“, sagt Außenamtssprecher Schäfer. Ausdrücklich will er auch keinen Zusammenhang zwischen dem Streit um die Auftritte und dem Fall Deniz Yücel herstellen.

Gibt es Mittel, mit denen Berlin Ankara unter Druck setzen könnte?

Theoretisch schon – praktisch stellt sich aber jedesmal die Frage, wem sie eigentlich mehr schaden. Ein Abzug der Bundeswehr vom türkischen Flughafen Incirlik etwa würde den internationalen Kampf gegen den „Islamischen Staat“ erschweren; einen Ersatzflughafen für die Aufklärungs-Tornados in der Region gibt es momentan nicht. Einfrieren oder Abbruch der EU-Beitrittsgespräche bliebe ein symbolischer Akt. Wirtschaftssanktionen sind angesichts der engen Verflechtungen schwer vorstellbar, zudem müssten sie auch in der EU abgestimmt werden.

Wie reagieren deutsche Politiker?

Vielen Beteiligten in der lebhaften deutschen Debatte um die Türkei scheint es nicht nur um das Schicksal von Meinungsfreiheit und Demokratie zu gehen. In drei Bundesländern (Schleswig-Holstein, Saarland, Nordrhein-Westfalen) wird bald gewählt. Minister aus dem SPD-regierten Nordrhein-Westfalen richten schwere Vorwürfe gegen Kanzlerin Angela Merkel, obwohl sie und Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) eng zusammenarbeiten. Justizminister Heiko Maas (SPD) schreibt einen Brandbrief an seinen türkischen Kollegen, obwohl ihm das Auswärtige Amt davon dringend abrät. Maas ist Chef der Saarland-SPD und damit ebenfalls Wahlkämpfer.

Wie reagiert die Türkei auf die Absage der Veranstaltungen in Gaggenau und Köln?

„Skandal“, Frechheit“, „Schande:“ Das Presseecho in der Türkei nach den geplatzten Auftritten der Minister war eindeutig. Ausgerechnet die Deutschen, die den Türken gegenüber in Sachen Demokratie und Meinungsfreiheit immer mit dem erhobenen Zeigefinger auftreten, hindern frei gewählte Politiker eines befreundeten Landes daran, ihre Wähler zu treffen, lautete der Tenor. Nicht nur die Medien waren empört. „Sie sind nicht der Boss der Türkei“, sagte Außenminister Cavusoglu an die Deutschen gewandt. Die Türkei sei kein Staat „zweiter Klasse“, den man herumschubsen könne. „Wenn Sie mit uns zusammenarbeiten wollen, werden Sie lernen müssen, wie man mit uns umgeht“, sagte der Minister.

Cavusoglu will am kommenden Mittwoch nach Deutschland kommen und sich mit Außenminister Sigmar Gabriel treffen. Beide Seiten unterstrichen bei einem Telefonat am Freitag ihren Willen, den Kontakt aufgrund der aktuellen Belastungen im deutsch-türkischen Verhältnis noch enger werden zu lassen und einer weiteren Eskalation vorzubeugen.

Bozdag, dessen Besuch in Gaggenau abgesagt wurde, sprach von einem „faschistischen“ Verhalten der deutschen Behörden. Erdogan-Berater Yusuf Yerkel warf Bundeskanzlerin Merkel am Freitag auf Twitter vor, bei ihrem Besuch in Ägypten mit dem „Putschisten“ und Staatspräsident Abdel Fattah al Sisi gesprochen zu haben, türkischen Ministern aber den Mund zu verbieten.

Selbst die Opposition in Ankara, die normalerweise kein gutes Haar an Erdogans Regierung lässt, schimpfte über die Deutschen. Kemal Kilicdaroglu, als Vorsitzender der säkularistischen Partei CHP der Oppositionsführer im Parlament von Ankara, sprach von Heuchelei: Deutschland trete in der ganzen Welt als Oberlehrer der Demokratie auf, verbiete dann aber die Veranstaltungen der beiden Minister.

Will Erdogan nun in Deutschland auftreten?

Vor dem Hintergrund der parteiübergreifenden Verärgerung über Deutschland dürfte sich Erdogan versucht sehen, seinen seit Tagen in der Presse diskutierten Plan für eine eigene Wahlkampfreise in die Bundesrepublik in die Tat umzusetzen. Der Präsident hat sich bisher nicht öffentlich zum neuen deutsch-türkischen Krach geäußert, doch hatten seine Anhänger schon vor dem jüngsten Streit sehr pikiert auf die Debatte in Deutschland über ein mögliches Verbot eines solchen Besuches reagiert.

Warum ist Deutschland ein so besonderer Partner für die Türkei?

In die Überlegungen über einen eigenen Deutschland-Besuch in der derzeit sehr aufgewühlten Atmosphäre wird Erdogan aber auch die längerfristigen Interessen der Türkei einbeziehen. Die Bundesrepublik ist nicht nur Heimat der größten Gemeinde von Auslandstürken und der stärksten Gruppe von Türkei-Touristen, sondern auch der wichtigste Handelspartner in Europa und als EU-Großmacht ein unverzichtbarer Verbündeter im Westen. Diese Bedeutung Deutschlands für die türkische Politik hat Erdogan bisher trotz allem Ärger über Berlin vor allzu radikalen Schritten abgehalten.

Was könnte der neue Streit für Deniz Yücel bedeuten?

Dass sich der neue Krach ausgerechnet am Streitthema Meinungsfreiheit entzündet, könnte die türkische Bereitschaft schmälern, dem inhaftierten deutsch-türkischen Journalisten Milde zuteil werden zu lassen. Vor seinem Auftritt in Gaggenau hatte Minister Bozdag noch einen möglichen Ausweg aufgezeigt, indem er auf die Möglichkeit zur Beschwerde gegen die Untersuchungshaft für den „Welt“-Korrespondenten hinwies. Inzwischen aber haben regierungsnahe Medien mit einer neuen Kampagne gegen Yücel begonnen. Die Erdogan-treue Zeitung „Star“ etwa berichtet über den Verdacht, Yücel habe in Wirklichkeit nicht für eine Zeitung, sondern für den BND gearbeitet.

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