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Luther auf dem Sockel in Wittenberg.

© dpa

500 Jahre Reformation: Die evangelische Kirche hat Grund zu feiern - und zur Selbstkritik

Martin Luther entmachtete die Kleriker und legte sich mit allen Hierarchien an. Das war revolutionär - und ist es bis heute. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Claudia Keller

Vor 500 Jahren gab es in Wittenberg eine Revolution, die Deutschland, Europa und die ganze Welt verändert hat. Angestoßen hat sie der Augustinermönch Martin Luther. Daran wollen Kirche, Bund und Länder vom heutigen Montag an ein Jahr lang mit zahlreichen Veranstaltungen erinnern.

Den Kern seiner revolutionären Ideen hat Martin Luther 1520 in der Schrift „An den christlichen Adel“ formuliert. Es gebe keinen innerlichen Unterschied zwischen Laien und Klerikern, schrieb er. Durch die Taufe habe Gott alle Christen gleichermaßen „geweiht“. Die Priesterweihe schaffe keinen anderen Menschen und keinen besonderen Stand. Priester zu sein, sei bloß ein Amt und begründe keine besondere Nähe zu Gott.

Statt einer christlichen Zwei-Klassengesellschaft, wie sie die katholische Kirche bis heute praktiziert, forderte Luther das „allgemeine Priestertum“ aller Glaubenden und Getauften.

Keinen Unterschied im Glauben zwischen Bischöfen und Bauern? Zwischen Mönchen und Müllern? Zwischen Männern und Frauen? So etwas zu behaupten, war ungeheuerlich. Es war ein Angriff auf alle Hierarchien, auch auf die weltlichen, die sich im vermeintlichen Gottesgnadentum sonnten. Es war umstürzend und revolutionär – und ist es bis heute.

Das Priestertum aller Glaubenden setzt allen Berufsreligiösen Grenzen

Die Idee vom Priestertum aller Glaubenden zeigt den Bischöfen, Theologieprofessoren und Oberkirchenräten, den Mullahs und religiösen Funktionären die Grenzen auf. Sie führte in der evangelischen Kirche dazu, dass die Laien auf vielen Ebenen mitbestimmen und sich auch außerhalb der Kirche selbstbewusst zu Wort melden. Es folgte daraus, dass Frauen Pfarrerinnen und Bischöfe werden können. Und auch politisch hatte Luthers Idee Konsequenzen. Nicht sofort und von ihm später auch nicht mehr gewollt, aber über die Jahrhunderte hinweg führte Luthers Anstoß dazu, dass sich Gewissensfreiheit, Menschenrechte und Demokratie entwickeln konnten.

Die reformatorische Idee, eine partizipatorische, egalitäre Religion zu begründen, treibt Menschen seit 500 Jahren an, sie ermutigt und verunsichert und bringt eine große Lebendigkeit ins Christentum. Sie bleibt der Anspruch, an dem sich die 800 Millionen Protestanten weltweit messen müssen. Denn Anspruch und Wirklichkeit klaffen vielerorts noch weit auseinander.

Anspruch und Wirklichkeit klaffen oft auseinander

Da wiegt das Wort des Bischofs, Pastors und Theologieprofessors eben doch mehr als das des „einfachen“ Christen. Da machen sich Gläubige gar nicht die Mühe, mitzudiskutieren und selbst in die Bibel zu schauen, wie es Luther gefordert hat, sondern lassen sich aus Bequemlichkeit und Desinteresse von den Kanzelpredigten einlullen oder von emotionaler Schwärmerei wegreißen.

In vielen Teilen der Welt ist die evangelische Kirche immer noch eine patriarchale Veranstaltung und die Weihe von Frauen zu Pfarrerinnen und Bischöfinnen undenkbar. In Deutschland ist sie zu häufig eine exklusive Versammlung sozial besser gestellter Schichten. Arme, Alleinerziehende oder Senioren, die nicht hinkommen mit der Rente, werden oft als Fürsorgeobjekte wahrgenommen und nicht als ebenbürtige, mündige christliche Geschwister.

Evangelische sind auch nach wie vor besonders anfällig dafür, sich mit der weltlichen Obrigkeit gemeinzumachen. Das hat ihnen Martin Luther in die Wiege gelegt, der die Obrigkeit als gottgegeben auffasste und sich in ihren Schutz flüchtete. Um sein emanzipatorisches Projekt zu retten, verriet er es später in Teilen. Kritische Distanz zur politischen Klasse zu halten, auch wenn man sich inhaltlich so gut versteht, ist eine bleibende Herausforderung für die evangelische Kirche.

Wenn es gelingt, an die Errungenschaften der Reformation zu erinnern und zugleich die bestehenden Deformationen in den Blick zu nehmen, selbstbewusst und selbstkritisch, dann wird sich das Jubiläumsjahr lohnen. Denn das, was vor 500 Jahren begonnen hat, ist noch lange nicht zu Ende.

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