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Wladimir Lenin, Begründer der Sowjetunion, bei einer Ansprache auf dem Roten Platz in Moskau am 7. November 1918.

© Uncredited/Russian State Archive of Social and Political History/AP/dpa

100 Jahre Oktoberrevolution: Es war einmal eine Utopie

Die "Große Sozialistische Oktoberevolution" ist das Ur-Ereignis des von der Idee zur Politik gewordenen Kommunismus. Was daran bis heute zum Staunen ist. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Bernhard Schulz

Vor 100 Jahren fand statt, was als „Große Sozialistische Oktoberrevolution“ jahrzehntelang in der Sowjetunion gefeiert wurde – wenngleich wegen der Kalenderreform, die das Russische Reich dem Rest der Welt anglich, fortan am 7. November.

Es war das Ur-Ereignis des von der Idee zur Politik gewordenen Kommunismus.

Als Lenins Bolschewiki kampflos den Winterpalast der Zaren besetzten, hatten sie kaum so etwas wie ein Handlungsprogramm – wohl aber eine Vision. Diese Vision, das angestrebte Endziel ihrer Revolution, war der Kommunismus. Es war die klassenlose Gesellschaft, geschaffen nach einer Transformationszeit der „Diktatur des Proletariats“, der Klasse der Arbeiter und mindestens in Russland der Bauern. Eine Gesellschaft der absoluten Gleichheit und, um mit Marx zu sprechen, das Ende der „Vorgeschichte“ der Menschheit. Von Russland aus, hofften Lenin und die Bolschewiki, würde das Signal zur Weltrevolution ausgehen.

Erst 1991 wurde die Revolution zur Geschichte

Eine abrupte Kehrtwendung war dann, als der zum Diktator aufgestiegene Josef Stalin, das klägliche Scheitern der erhofften Weltrevolution vor Augen, den „Sozialismus in einem Land“ verkündete. Die Menschheitsutopie verkümmerte zur Plansoll-Parole. Das bedeutet auch, dass fortan jede Bewegung in einem anderen Land auf sich gestellt war, zugleich aber frei, einen eigenen Weg zu gehen – wie ihn erst Titos Jugoslawien und später Maos China genommen haben. Die Bindekraft der kommunistischen Ideologie schwand, an ihre Stelle trat die ökonomische Unterstützung, vor allem aber der mächtige Arm des sowjetischen Militärs. Die „Breschnew-Doktrin“ der „begrenzten Souveränität sozialistischer Staaten“ von 1968 klingt den solcherart Beglückten noch heute schrill im Ohr.

Die Kommunistischen Partei Russlands gedenkt der am Lenin-Mausoleum in Moskau der Oktoberrevolution. Putins Kreml vermeidet dagegen jedes offizielle Gedenken.
Die Kommunistischen Partei Russlands gedenkt der am Lenin-Mausoleum in Moskau der Oktoberrevolution. Putins Kreml vermeidet dagegen jedes offizielle Gedenken.

© Alexander Zemlianichenko/AP/dpa

Doch erst mit dem Jahr 1991 wurde die Russische Revolution endgültig zur Geschichte. Sie war es bis dahin nicht, weil sie als Modell und Ansporn fortwirkte, jedenfalls fortwirken sollte; als Handlungsanleitung für die (gedachte) Klasse der Arbeiter und Bauern, die sich gegen ihre Ausbeuter erheben und die Macht übernehmen sollten. Was nirgends geschah; so wenig, wie es in Russland der Fall gewesen war. Das reale Vorbild der Machtergreifung von 1917 indessen wirkte in vielen Ländern, das Modell des Putsches einer gut organisierten, mit militärischer Gewalt operierenden Gruppe oder Partei. Das ist vorbei.

Und doch greift zu kurz, wer die Geschichte der Russischen Revolution nur als Herrschaftsgeschichte liest. Denn wie abgründig die Gewalt auch war, die das Sowjetsystem entfesselte, wie totalitär zuzeiten die Kontrolle und Repression, so erstaunt doch die enorme Entfaltung schöpferischer Energie, die die Revolution begleitete, ja ihr bereits vorausging und ihr danach folgte. Sergej Eisenstein ist nur ein Name für viele, für Tausende und Abertausende.

Die Vision von Gleichheit und Gerechtigkeit lebt fort

Die Revolution enthielt ein Glücksversprechen, mochte es von den Herrschenden auch noch so zynisch gemeint gewesen und geäußert worden sein. Gewiss, es waren „die Katastrophen des Weltkriegszeitalters, die Krisen des europäischen Imperialismus und die Konvulsionen eines sich global durchsetzenden Kapitalismus, die den kommunistischen Kampfbewegungen die Waffen, die Argumente und die moralische Kraft lieferten“, wie jüngst der Historiker Gerd Koenen schrieb, der eminente Kenner kommunistischer Ideologien. Aber das waren die äußeren Bedingungen, die den Kommunismus ebenso an die Macht brachten wie – nicht zu vergessen - den italienischen Faschismus und später den deutschen Nationalsozialismus. Beiden Rechts-außen-Bewegungen hat das sowjetische Beispiel die Mobilisierung ungezählter Köpfe und Hände voraus, die Neues und im Wortsinne Gutes schaffen wollten, und eben nicht nur für sich und ihre jeweilige politische Gruppe oder soziale Schicht, gar für ihre „Rasse“, sondern idealiter für die ganze Menschheit. Dass all dieser produktive Wunsch und Wille enttäuscht, unter der Diktatur Stalins sogar millionenfach tödlich enttäuscht wurde, gehört als Kehrseite der Geschichte dazu. Die Vision einer auf Gleichheit und Gerechtigkeit beruhenden Weltgesellschaft indessen lebt fort, sie ist im Zeitalter der Globalisierung sogar konkreter als je zuvor.

2018 wird des 200. Geburtstages von Karl Marx gedacht. Marx hat den Kommunismus nicht erfunden; vielmehr hat er, nach der Enttäuschung von 1848, zeitlebens an der wissenschaftlichen Erforschung des alles durchdringenden, alles erobernden Kapitalismus gearbeitet. Dass daraus der „Marxismus“ abgeleitet wurde, ist eher ein Missverständnis. Aber wie dem auch sei: Der Kommunismus in der Gestalt, die er im frühen 20. Jahrhundert und zumal im rückständigen Russland gefunden hat, ist bei Weitem nicht nur, aber auch deutschen Ursprungs. In der Russischen Revolution kamen erstmals Kräfte an die Macht, die sich auf Marx beriefen und dessen Wort im Sinn hatten, „eine Idee wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift“. Die Massen wurden in Russland in den Jahren nach der Revolution ergriffen, ob sie wollten oder nicht. Dieses „Ergreifen“, diese Mobilisierung für ganz unwahrscheinliche Ideen, für den Traum von einer anderen, gänzlich neuen Welt macht noch heute Staunen. Das war die eigentliche Revolution, eine Revolution in den Köpfen. Unabhängig davon – nein, gerade mit Blick darauf –, was an Schrecklichem daraus ebenfalls hervorgegangen ist.

Putin geht es nur um Größe

Der derzeitige Herr im Moskauer Kreml will von all dem möglichst nichts wissen. Zwar ist Wladimir Putin in der alten Sowjetunion aufgewachsen, doch was sein Regime anbetrifft, liegt der Grund auf der Hand: Der Präsident und seine engsten Führungszirkel fürchten jede Art von Aufruhr, Putsch oder gar Volkserhebung. Sie kennen die Geschichte zu gut, um nicht die Schwachstelle einer jeden autoritären Herrschaft zu kennen: die entweder ohnehin fehlende oder aber in Windeseile schwindende Legitimität. Putin hat seinen Bürgern keine Utopie mehr anzubieten, ihm bleibt nur die Berufung auf die „Größe“ Russlands, die aber immer wieder neu und jedes Mal stärker bewiesen werden muss. Auch die Krim kann man nur einmal besetzen. Und dann?

Es ist das Paradox der bolschewistischen Revolution, das sie einerseits die jahrhundertealte Zarenherrschaft beseitigte und andererseits das Russische Reich rettete. Wer weiß, ob das Imperium der Romanows am Ende des Ersten Weltkriegs nicht auseinandergefallen wäre wie das der Habsburger oder das der osmanischen Sultane? Die Bolschewiki gaben dem von allen Seiten bedrängten Russland seine alte Größe zurück und neue Größe hinzu. Dieser Größe trauert Putin nach, der den Zerfall der Sowjetunion 1991 allen Ernstes als „größte historische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ sieht. Die Größe will er zurück, die Revolution fürchtet er wie nichts sonst auf der Welt.

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