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Ursula Weidenfeld ist Wirtschaftsjournalistin. Sie war unter anderem Chefredakteurin von "impulse".

© Mike Wolff

Wie wir leben: Jeder Schwachsinn wird zur Philosophie

Immer mehr fliehen in die Achtsamkeitsnische. Das ist eine Kapitulation, keine Lösung. Ein Kommentar

Ein Kommentar von Ursula Weidenfeld

Seit jeher tun Menschen vergleichsweise einfache Dinge. Manche treiben Sport, andere essen gern Gemüse. Einige üben sich im Kopfstand, fast alle pflegen ihre Haut. Manche kauen langsam, die meisten streben ein friedliches Leben an. Jeder zehnte schläft gern auf Taschenfederkernmatratzen ein. Eine Minderheit beobachtet Vögel. Bis vor ein paar Jahren hat man kein Aufhebens von seinen Gewohnheiten gemacht. Im 21. Jahrhundert ist das anders geworden: Auf der Flucht vor den großen Themen wird jede kleine Entscheidung im Leben zur Geisteshaltung geadelt, jeder Schwachsinn zur Philosophie. Keine Mode ist so schrill, kein Trend so banal, dass man sie nicht mit Bedeutung aufladen, in Kursen lernen und (wichtig!) bei den Krankenkassen geltend machen könnte.

Veganismus vs. Paleoismus

Das wäre überhaupt kein Problem, wenn es weiterhin niemandem schaden würde. So ist es aber nicht. Denn erstens fallen die einfachsten Entscheidungen des Lebens – zum Beispiel ins Bett zu gehen – immer schwerer, wenn sie von einem tonnenschweren Gedankengewölbe belastet sind. Und zweitens wird im Gehirn der Platz für die wichtigen Dinge knapp.
Man geht nicht mehr zu Bett, sondern ist von einer Schlafphilosophie überzeugt. Man speckt nicht mehr ab, sondern entgiftet den Körper. Man treibt Sport? Nur mit einem Fitness Tracker ums Handgelenk, zur digitalen Überhöhung des Ichs. Man möchte nicht mehr alles so schwer nehmen? Auch das ist nicht so einfach, wie es sich anhört. Viele brauchen einen Kurs im Ausbildungsinstitut für achtsamkeitsbasierte Verfahren, damit sie anschließend ihrem neuen Leitstern, der Achtsamkeit, folgen können. Gelegentlich liefern sich Anhänger der neuen Philosophien (Veganismus) mit Fans der entgegengesetzten Lehre (Paleoismus) Gefechte, die in ihrer Erbitterung den Schlachten zwischen Katholiken und Protestanten im 30-jährigen Krieg nicht nachstehen.

Die wirklich wichtigen Dinge? Was kann ich noch glauben? Was muss ich wissen? Wie kann ich es lernen? Was ist mein Beitrag? Das sind zu große Herausforderungen in einer Welt, in der alles einen doppelten Boden bekommen hat, in der unbeabsichtigte Konsequenzen die Ursprungsüberzeugungen überlagern. Die Flucht in die Achtsamkeitsnische ist keine Antwort auf die immer größer werdende Unübersichtlichkeit. Sie ist eine Kapitulation.

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