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Gemeinsam nach vorn. Wie hier im nordrhein-westfälischen Neuss sollen auch an Berliner Schulen Behinderte und Nicht-Behinderte zukünftig mehr gemeinsam lernen.

© dpa

Streitthema Inklusion: Voll behindert!

Mehr Inklusion, fordert die UN: Kinder mit und ohne Behinderung sollen gemeinsam unterrichtet werden. Sie können viel voneinander lernen. Doch Berlin lässt sich das zu wenig kosten – und bringt sich so um den Gewinn.

Du bist ja voll behindert! Das ist eine gängige Beleidigung auf Berlins Schulhöfen. Aber das könnte sich ändern. Künftig sollen nicht behinderte und behinderte Kinder gemeinsam unterrichtet werden – und dann könnten die vermeintlich normalen Schüler lernen, dass der Spruch auch als Auszeichnung verstanden werden kann. Behinderte können fast alles – und manches sogar besser. Wolfgang Schäuble, CDU, querschnittgelähmt, Bundesfinanzminister. Malu Dreyer, SPD, an Multipler Sklerose erkrankt und Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz. Behinderte sind Leistungssportler, Unternehmer, Wissenschaftler. Mancher Blinde hört als Toningenieur mehr als andere, Software-Firmen lernen die erstaunlichen Fähigkeiten von Autisten zu schätzen. Die inkomplett querschnittgelähmte Schwimmerin Kirsten Bruhn kommt beim Zählen ihrer Paralympicsmedaillen, Rekorde und Auszeichnungen kaum hinterher, gewann einen Bambi und wird als Protagonistin im Sportdokumentarfilm „Gold – Du kannst mehr als Du denkst“ ein Star dieser Berlinale. Selbst die Queen würdigt Behinderte als „Superhumans“ – per Ritterschlag.

Darum gehören Erfolgsgeschichten wie die des gelähmten Astrophysikers Stephen Hawking oder des contergangeschädigten Baritons Thomas Quasthoff auch in den Schulunterricht. Man kann viel von Behinderten lernen: Disziplin, Lebensmut, Willenskraft. Qualitäten, von denen auch Unternehmen profitieren wollen, die Behinderte als Motivationstrainer einsetzen.

Aber: Obwohl es also keinen vernünftigen Grund dafür gibt, leben nicht behinderte und behinderte Kinder immer noch in getrennten Welten: die einen auf der Regelschule, die anderen auf der Förderschule, für die jetzt in der aktuellen Debatte sogar der diskriminierende Begriff Sonderschule wieder zitierfähig geworden ist. Dass Kinder in einem reichen, modernen Land wie Deutschland nicht die Bildung erhalten, die ihnen zusteht, bemängeln die Vereinten Nationen als Verstoß gegen die Menschenrechte.

Andere Länder sind weiter

Gemeinsam nach vorn. Wie hier im nordrhein-westfälischen Neuss sollen auch an Berliner Schulen Behinderte und Nicht-Behinderte zukünftig mehr gemeinsam lernen.
Gemeinsam nach vorn. Wie hier im nordrhein-westfälischen Neuss sollen auch an Berliner Schulen Behinderte und Nicht-Behinderte zukünftig mehr gemeinsam lernen.

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Wie peinlich für uns! Es war mir als Berlinerin unangenehm, während der paralympischen Winterspiele im kanadischen Vancouver mitzuerleben, dass dort fast jede Schule, beinahe jede Kneipe und jeder Elektronikfachmarkt eine Rollstuhlrampe hat. Ich habe in London neidisch beäugt, wie Leute mit cool tätowierter Carbonprothese auf der Straße ganz selbstverständlich plauderten und scherzten: Lieber Arm ab als arm dran! Ich bin dankbar dafür, wie mich bei den Paralympics tausende Behinderte aus aller Welt stets offenherzig inkludieren. Beim ersten Mal fühlte ich mich als Außenseiter, weil ich irgendwie anders war, bis mir die Behinderten klargemacht haben: Wir sind alle gleich. Begabte und Unbegabte, Nette und Unsympathische gibt es mit und ohne Behinderung.

Es gibt Kinder, die das schon heute an Berliner Schulen gemeinsam erfahren dürfen. Die miterleben, dass auch Schwerstmehrfachbehinderte am Schultisch Klassenkameraden sind, von denen man lernen kann: zum Beispiel, wie man sich an einem schlechten Tag mit einem unbändigen Lachen aufmuntert. So einen unbeschwerten Umgang miteinander müssen alle erleben dürfen, verlangt die Weltgemeinschaft UN – die geplante Schulreform in Berlin sieht bisher aber nicht danach aus, das möglich zu machen.

Denn das Großvorhaben, das der Senat angekündigt hat, droht zur Sparversion zusammenzuschrumpfen. Der Inklusionsbeirat spricht inzwischen nur noch schüchtern vom Ziel, den Anteil behinderter Schüler an der Regelschule schrittweise erhöhen zu wollen. Das klingt nicht nach der synergetischen Verschmelzung der Schulformen, nicht nach gleichberechtigter Teilhabe.

Weil es zu viel kostet, ausreichend qualifizierte Pädagogen einzustellen. Seltsam, dass sich die zusätzlich nötigen Milliarden für den Fluchhafen BER scheinbar von allein vermehren, dazu eine Landesbibliothek und ein Traumschloss möglich sind, und für die menschlichste Sache der Welt das Geld fehlt. Dabei wäre der Gewinn unschätzbar. Und Berlin könnte sich ein Lob verdienen, das bisher als Beleidigung gilt: Voll behindert!

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