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Sozialministerin Nahles. Rente ist das Aufsteigerthema des Politbarometers im April.

© dpa

Rente mit 63: Das falsche Gerede von der Lebensleistung

Wenn es um die Rente mit 63 geht, ist immer von einer Würdigung der Lebensleistung die Rede. Doch wie kommt die Politik dazu, über die Leistung einzelner Menschen zu urteilen? Am Ende belohnt sie nur den systemkonformen Normalbürger.

In der Physik trägt Leistung das Kürzel P und lässt sich berechnen aus Energieübertragung und Zeitspanne. Sie ist eine klar definierte Größe. In der Politik dagegen ist Leistung ein schwammiger Begriff und je nach Überzeugungsstandort von unterschiedlichem Inhalt. Die Parole „Leistung muss sich wieder lohnen“ zum Beispiel, ausgegeben 2010 vom damaligen FDP-Chef Guido Westerwelle, machte aus Leistung einen Geldwert. Der sollte sich fortan stärker im Geldbeutel der Leistungserbringer niederschlagen - verglichen vor allem mit dem, was die Nichtsleister, also Sozialleistungsempfänger, darin vorfinden.

Muss sich Leistung wieder lohnen?

Leistung bei Westerwelle war das selbstverdiente Einkommen. Mancher fand das kapitalistisch-kaltschnäuzig. Aber stand nicht schon in der Bibel: „Wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen“? Beide, Westerwelle und der Apostel Paulus, beziehen sich auf eine Gegenwart, die zu ändern sei. So werden bei Paulus die Müßiggänger im Namen des Herrn Jesus Christus aufgefordert, sie sollten künftig „still ihrer Arbeit nachgehen und ihr eigenes Brot essen“. In der momentanen Diskussion um die Rentenreform ist wieder oft und anhaltend von Leistung die Rede. Genauer: von Lebensleistung.

Nahezu täglich kommt sie vor, in den Nachrichten, in Kommentaren, in Diskussionsrunden. Wie selbstverständlich hat sie es in den Sprachgebrauch geschafft. Lebensleistung ist, was durch Rentenerhöhungen honoriert werden soll. Inhaltlich erschöpft sich diese Lebensleistung in einem geleisteten Beitrag zum Rentensystem, ob als regelmäßige und langjährige Einzahlung erbracht oder durch das Zurweltbringen von mutmaßlich künftigen Einzahlern.

Und was ist mit dem Rest? Den Millionen Anderen? Anders als in der Physik, anders als bei Guido Westerwelle und in der Bibel wird in der aktuellen Leistungsdebatte eine retrospektive Bewertung vorgenommen, ein Lebensabschlussurteil, erstellt per Punktesystem von einer Regierung. Die legt (sich) fest: hier Lebensleistung, da keine. Aber dieser Begriff ist zu gewaltig für eine Beitragsquittierung, mit ihm transportiert sich zwangsläufig eine inhaltliche Qualifizierung, mit ihm wird ein Werturteil gefällt - genau das jedoch steht dem Staat nicht zu. Darum ist diese Auffassung von Lebensleistung so falsch und so anmaßend, dass sie einem im Halse stecken bleiben müsste.

Was eine Lebensleistung ist oder nicht, entscheidet nicht die Politik, wie konnte sie das vergessen? Das drückt sich auch nicht in einem Rentenberechnungssystem aus. Es ist eine individuelle Wahrnehmung und persönliche Angelegenheit, so wie jedes Leben individuell und persönlich ist. Ein mehrfach schwerbehinderter Mensch, der gegen alle Wahrscheinlichkeit einen Bastkorb geflochten hat – erbringt er keine Lebensleistung? Ein zeitlebens Arbeitsloser, der darüber nicht bitter wurde, sondern in seinem Umfeld für gute Laune oder Geborgenheit gesorgt hat – keine Lebensleistung? Oder umgekehrt: Ein Fliesenleger, dessen Arbeit jeweils Anlass für Reklamationsprozesse war, ein Topmanager, der reihenweise Firmen durch Managementfehler ruiniert und Tausende Menschen arbeitslos gemacht hat – fleißige Beitragszahler über Jahrzehnte, alle beide.

Die, die über die Rente entscheiden, sind meist nicht von ihr betroffen

Aber eine staatlicherseits besonders zu wertschätzende Lebensleistung? Wieso? Das Lebensleistungsgerede zeigt, welches Rollenmodell die Politik gegen jede Realität bevorzugt: das des angepassten, nicht mal marktkonformen, sondern vor allem sozialsystemkonformen Einzahlbürgers. Ob mancher im Land sich nicht etwas mehr verspricht vom Leben? Vielleicht zeigt sich in diesem deplatzierten Großsprech, wie wenig die Politik die Menschen kennt. Vielleicht hat es auch nur mit der Zusammensetzung des Parlaments, der Regierung zu tun. Das Gros derer, die seit Jahrzehnten die Rentenpolitik gestalten und verwalten, hat mit dem Ergebnis nichts zu tun.

Abgeordnete erhalten derzeit für jedes Jahr Bundestagsmitgliedschaft einen monatlichen Pensionsanspruch von 204 Euro. Viele von ihnen sind Beamte oder Selbstständige, die weder in die gesetzliche Rentenkasse einzahlen, noch daraus versorgt werden, sondern durch steuerfinanzierte Pensionen oder Privatvorsorge im Alter ihr Auskommen haben. So ist eine Kluft entstanden, die sich jetzt auch verbal ausdrückt. Aus welcher Distanz fällt ein Wort wie das von der Lebensleistung? Es wird von oben nach unten gespendet. Aber die da oben sind die Vertreter des Volkes, nicht die Vorgesetzten – und schon gar nicht die Richter.

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