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Lesermeinung: Mut zu Visionen für Europa

Das geeinte Europa war einst ein bejubeltes Projekt, meint unser Leser Oliver Weber. Heute stehe es für eine Maschinerie, der es an Visionen mangelt.

Während am Montag in der Brüsseler Innenstadt zahlreiche junge Menschen lebhafte Unterhaltungen führen und über die hübschen Straßen der belgischen Metropole flanieren, sitzen am selben Tag, zur selben Stunde, 19 abgekühlte Europäer in einem engen Verhandlungssaal. Der Saal, in dem sie sitzen, ist ausgestattet mit kantigen Holzmöbeln und lieblos angebrachten Tischdekorationen. Die Luft ist stickig, der Ton ist rau. Hier wird gerade sichtbar, welcher Streit die Euro-Länder trennt. Sparpolitik - ja oder nein? Finanzhilfen für Griechenland - ja oder nein? Auf Kooperation setzt hier keiner mehr. Das Miteinander ist verloren gegangen. Wer noch große Reden von brennenden Europäern wie Konrad Adenauer oder Charles de Gaulle im Kopf hat, dem erscheint das Klein-Klein des Euro-Gipfels lächerlich. Ja sogar abstoßend.

Europa - Ort der Visionen

Doch wie konnte es so weit kommen? War Europa nicht einmal ein Ort der Visionen - ja sogar ein Ort der Utopie? Waren es nicht brennende Europäer wie Konrad Adenauer, Charles de Gaulle und viele Weitere, die Europa als ein ersehntes Idyll des Friedens und der Freiheit beschrieben, das die viel zu lang zerstrittenen europäischen Vaterländer zusammenführen und versöhnen sollte und das nun -  61 Jahre nachdem Adenauer es als „Notwendigkeit für uns alle" titulierte - zu scheitern droht? 

Freilich, der aufkeimende politische Konflikt der verschiedensten Euro-Länder, ist nicht gleichbedeutend mit dem Scheitern des Europäischen Projekts. Doch dieser Vorgang steht symbolisch hierfür, wie ein grauer Felsbrocken, der von der Klippe bricht, bevor auch das restliche Gestein - spröde, wie es über die Jahre geworden ist - ihm in die Tiefen folgt.

Kalter Schleier der Dekadenz

Europa leidet unter einem kalten Schleier der Dekadenz, der sich über die vielen Lande gelegt hat. Wo man sich früher als Bürger Europas bezeichnete, eifrig den „zusammenwachsenden Kontinent" bejubelte und gar von den „Vereinigten Staaten von Europa" träumte, herrscht nun eine Stimmung, wie zu Zeiten der Restauration - als große Revolutionen und Ideen lieber im Mülleimer der preußischen Zensurbehörde landeten statt in den Köpfen der Menschen. Wie damals scheint die Vergangenheit plötzlich wieder schön - als alles klein und überschaubar war. Die Zeit des Nationalstaats. Doch die Welt hat sich inzwischen weitergedreht.

Große Zitate zum Europäischen Projekt findet man kaum mehr. Als vor ein paar Tagen ein SPIEGEL Journalist den engsten Berater Angela Merkels fragte, welche Vision die Kanzlerin eigentlich von Europa habe, erwartete er eine lange ausschweifende Antwort, in der die Wörter „Frieden", „Freiheit" und „Wohlstand" mit einer ordentlichen Portion Pathos zu einem triefenden Textbaustein zusammengebastelt werden. Doch die Antwort fiel kurz aus: Die Kanzlerin wünsche sich ein „wettbewerbsfähiges Europa". Die Zeiten haben sich eben geändert.

Europa im 21. Jahrhundert

Von der Bevölkerung zum Bürokratiemonster beschworen, von Populisten als geldgieriger Feind des Nationalstaates verschrien und nun auch noch erschreckend müde und ausgelaugt: Das ist Europa im frühen 21. Jahrhundert. Wie ein Imperium, das, lange erfolgreich und schließlich dekadent, vollkommen unfähig geworden ist, seine eigenen Probleme zu lösen. 

Egal ob im Schuldenstreit mit Griechenland, in der Debatte über eine Ausweitung der europäischen Integration, der Flüchtlingsverteilung oder des möglichen Ausscheiden Großbritanniens aus der Europäischen Union: Überall wird über Kleinigkeiten gestritten, blockiert, gedroht und polemisiert - vom europäischen Miteinander keine Spur. Aus Angst, die Populisten im Heimatland zu verärgern oder später als der Schuldige für das Kriseln irgendwelcher Institutionen zu gelten, arbeitet man gegeneinander und hat Angst große Schritte zu gehen. Der Chauvinismus kehrt zurück. 

Dabei wäre es gerade jetzt an der Zeit, über die wirklich wichtigen Dinge nachzudenken. Wie sieht das Europa der Zukunft aus? Wie kann man die gesamte EU-Maschinerie demokratisieren und näher an den Bürger bringen? Wie kann aus der gemeinsamen Währung eine Kooperation in Wirtschafts- und Sozialfragen entstehen? Doch noch viel wichtiger als das wäre es, dass sich die Europäischen Länder wieder auf ein Miteinander - auf ein gemeinsames Ziel - einigen. Damit wären Streitereien in Detailfragen kein Grund mehr um ein Land in die Nähe der Zahlungsunfähigkeit abgleiten zu lassen und auch so mancher Flüchtling wäre schneller verteilt. Auch die Briten wüssten dann wohl, woran sie wären. 

Mut statt Dekadenz

Doch davon hörte man lange nichts mehr in der so einschläfernden Brüsseler Maschinerie. Wo Ideen so lange durch alle bürokratischen Walzen gedreht werden, bis hinten ein schmal formuliertes Positionspapier rauskommt, das schließlich den Weg in die Presseabteilung findet, nur um nur einen Tag später der Grund dafür zu sein, dass irgendeine europäische Regierung erbost der Öffentlichkeit mitteilt, wie sehr ihr das Dokument schon zu weit gehe. Dabei sind Visionen gerade der Rohstoff, aus denen die Fabrik Europa erst entstanden ist.  Träumereien von Einheit und Freiheit bilden den Sockel des Europäischen Projekts. Doch wer in jenen engen, kantigen Verhandlungssaal blickt, in dem sich die 19 Euro-Finanzminister am Montagabend zur Griechenland-Verhandlung einfanden, der wird feststellen, dass Visionen dort keinen Platz haben. Mit dem Wort „Vision" verbindet man dort nichts mehr. Doch statt Dekadenz wäre nun Mut gefordert. Mut zur Vision!

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Oliver Weber

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