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Katastrophen in China: Ungezügelter Kapitalismus

China versucht, die Explosionen von Tianjin als Unfall darzustellen. Aber passiert ist eine Katastrophe – und das ist kein Einzelfall. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Ein Industrieunfall? Das Wort klingt verharmlosend angesichts der Luftbilder aus Tianjin. Der riesige Krater, aus dem fünf Tage nach den schweren Explosionen noch immer Rauch aufsteigt, erinnert an New York nach 9/11. Die rußgeschwärzten Trümmerflächen, auf denen vor einer Woche noch Lagerhallen standen und nun keine Wand mehr zu sehen ist, beschwören die Bilder aus Hiroshima und Nagasaki herauf, die viele Medien zum Jahrestag des ersten Atombombenabwurfs erneut gezeigt hatten. Diese Bilder lassen ahnen: Die Zahl der Opfer wird weit über den offiziell gut hundert Toten und 700 Verletzten liegen.

Das Ausmaß der Zerstörung ist das eine. Sie lässt manche zweifeln, ob das wirklich nur ein Industrieunfall war. Der andere Grund für bohrende Fragen ist die Intransparenz. Warum weiß die Öffentlichkeit selbst fünf Tage nach dem Unglück so wenig über Hergang und Ursachen? Was für Substanzen lagerten da und in welchen Mengen? Warum wurden die ersten Nothelfer ohne Atemmasken und Schutzanzüge in diese Todeszone gelassen? Und dürfen die Menschen in der Umgebung nach all der Geheimniskrämerei plötzlich darauf vertrauen, dass sie sicher sind vor Gift in der Luft?

Information und Sicherheit bedingen einander. Nur wer Gefahren kennt, kann sich – und die seinem Schutz Anvertrauten – davor schützen. Ob Hafenverwaltung oder Betriebsfeuerwehr, sie müssen im Unglücksfall auf verlässliche Daten über gelagerte Gefahrengüter zugreifen können, müssen wissen, ob man mit Wasser löschen darf oder nicht, um Opferzahl und Zerstörung zu minimieren. Intransparenz kostet Sicherheit und im Extremfall viele Menschenleben.

Chinas Turbokapitalismus hat schon hunderte Opfer gefordert

So zeichnet die Katastrophe im Hafen der 7,5-Millionen-Stadt Tianjin auch ein Bild davon, wo China steht in seiner Aufholjagd mit westlichen Industrieländern. Es zeigt die Fratze eines ungezügelten Kapitalismus.

Das Unglück ist ja kein Einzelfall, ja nicht einmal ein Extremfall. In welche Branche und welchen Lebensbereich man hineinschaut – Bergbau, Autoindustrie, Öl-Pipelines, Schifffahrt, Freizeitvergnügen, Luftqualität –, die Häufigkeit der Unfälle und der Preis an Menschenleben erschrecken. Ein paar Meldungen aus den letzten Monaten: Staubexplosion beim Zulieferer für GM mit 71 Toten, Schiffsunglück auf dem Jangtse mit 400 Toten, Massenpanik bei Silvesterfeier in Schanghai mit 36 Toten, Brand in einer Geflügelfarm mit 121 Toten, Explosion einer Öl-Pipeline im Hafen von Qiangdo mit 47 Toten, unzählige Unglücke und Explosionen in Kohlegruben mit Dutzenden Toten; allein im Bergbau wird die Zahl der Opfer auf 8000 pro Jahr geschätzt. An der Luftverschmutzung sterben 1,6 Millionen Chinesen pro Jahr.

Die Sicherheitsvorschriften sind lasch - und werden nicht eingehalten

Die Sicherheitsstandards sind nach westlichen Maßstäben ein Witz. Aber nicht einmal die werden eingehalten. 70 Mal so viel Natriumcyanid wie erlaubt soll am Unglücksort gelagert haben. Und der Abstand zu Wohnhäusern nur halb so groß wie vorgeschrieben gewesen sein.

In der globalen Finanzkrise waren viele geneigt, den Westen abzuschreiben, ganz voran die USA, und in China die künftige Führungsmacht zu sehen. „Bloß das nicht!“, möchte man heute rufen. Auch der Westen hat seine Geschichte an erschreckenden Industriekatastrophen: Großfeuer in innerstädtischen Textilfabriken, Grubenunglücke, Chemieunfälle wie in Seveso. Er hat daraus gelernt, hat die Vorkehrungen für Sicherheit am Arbeitsplatz und die Umwelt angepasst.

Das Gefälle zwischen Arm und Reich ist obszön

Chinas heutiges Wirtschaftsmodell hat keine Zukunft. Es ist in einer generellen Krise. Das Wachstum sinkt. Die Börsen taumeln. Das Gefälle zwischen Arm und Reich ist obszön. Vermag China seinen Weg zu korrigieren? Und kann der Westen dabei helfen? Als eine Textilfabrik in Bangladesch brannte, setzten westliche Verbraucher die dort produzierenden Konzerne unter Druck. Warum nicht Konsumentendruck auf China zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen? Auch internationale Handelsabkommen, die Mindeststandards setzen, sind eine Hilfe.

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