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Diskutieren über Hilfe für Flüchtlinge: SPD-Chef und Vizekanzler Sigmar Gabriel (l.) und Filmemacher Til Schweiger. Doch nach dem Treffen gab es viel Spott.

© dpa

Die Flüchtlingskrise und die deutsche Politik: Neuland für alle

Der Wettkampf der Parteien dreht sich nun vor allem um eines - um die beste Antwort auf die Flüchtlingskrise. Ein Kommentar

Ein Kommentar von Antje Sirleschtov

Es hat – an der Oberfläche politischer Betrachtung – lange so ausgesehen, als ob die Flüchtlingskrise zur Zerreißprobe vor allem für die Unionsparteien werden würde: zwischen Angela Merkels offenen Armen und Horst Seehofers Abwehrmaßnahmen, während sich Sozialdemokraten, Grüne und Linke mehr oder weniger auf die Rolle der Verteidiger von Menschenwürde und Weltoffenheit zurückziehen konnten.

Nun, nachdem der erste Schock der großen Zahlen überwunden ist und jedem Realisten klar wird, dass Deutschland weder wirksame Grenzzäune bauen noch folgenlos Jahr für Jahr Millionen Flüchtlinge aufnehmen kann, zeigt sich: Alle politischen Parteien werden von dieser Krise in ihrem Selbstverständnis berührt werden. In einem halben Jahr wählen Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz neue Landesparlamente und im Herbst 2017 steht die Bundestagswahl auf dem Kalender. Bis dahin ist nicht mehr viel Zeit. Und dass der Umgang mit der Flüchtlingskrise und den Folgen für Deutschland und Europa zum zentralen Thema der Wahlkämpfe werden wird, ist nur folgerichtig. Schließlich wird sich die Gesellschaft durch Zuzug so vieler Menschen verändern und die Bürger werden von den Parteien erwarten, dass sie ihnen dafür Perspektiven aufzeigen.

Nun ist sie auf einmal da, die Möglichkeit, Merkels Macht zu schwächen

Am Ende ist es ganz einfach: Wer Menschen in Not Asyl gewähren, sie integrieren und zur gleichen Zeit den Sorgen und Ängsten der hier Lebenden mit glaubwürdigen Antworten begegnen kann, der wird das Land ins nächste Jahrzehnt führen.

Der SPD-Vorsitzende hat diese große Chance erkannt – und auch die Risiken für seine Partei. Wie kaum ein Sozialdemokrat kennt Sigmar Gabriel die Kluft, die seit Jahren zwischen den Programmen und politischen Botschaften seiner SPD und den Erwartungen seiner Wähler liegt – und die lange Zeit für die Abwesenheit einer realen Machtperspektive im Bund verantwortlich war. Nun ist sie auf einmal da, die Möglichkeit, Merkels Macht zu schwächen. Denn die Gegenwart stellt das Land vor weitaus schwierigere Aufgaben als die möglichst reibungslose Sicherung von Wohlstand und dessen Verteilung – eine politische Kompetenz, die bis heute vor allem der Kanzlerin der Union zugeschrieben wurde. Wenn nun in großer Zahl Menschen anderer Religionen und Kulturen, wenn Analphabeten, schlecht Ausgebildete und Traumatisierte, die zumeist nicht unsere Sprache kennen, in das Gemeinwesen drängen, dann geht es um mehr als den Erhalt des Status quo. Dann werden alle Gewissheiten infrage gestellt: Wer erhält zuerst knappe Kitaplätze, wie wird Sicherheit gewährleistet, wer hat Vorrang bei der Vergabe von Sozialwohnungen und Arbeitsfördermaßnahmen, um nur einige zu nennen. Und hier kann sich eine Sozialdemokratie ins Spiel bringen, in deren Tradition der Zusammenhalt der Gesellschaft und die gerechte Verteilung von Lasten eine große Rolle gespielt haben.

Leicht wird das Finden einer neuen gesellschaftlichen Balance für keinen in der Politik werden, nicht für Gabriels SPD und auch nicht für Merkels CDU. Und auch Grünen und Linkspartei wird bald mehr einfallen müssen als Kritik an der großen Koalition.

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