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Hans Filbingers Aufnahmeantrag in die NSDAP, veröffentlicht vom Bundesarchiv.

© dpa

Deutsche Geschichte: Die eigene Familie als NS-Archiv

Wie jetzt Susanna Filbinger-Riggert setzen sich viele Kinder und Enkel der Kriegsgeneration mit der NS-Generation auseinander. Jede Familie ist ein Archiv. Darin verbergen sich Traumata auch der Täter.

Von Caroline Fetscher

Am Ende schleppten Ein-Euro-Jobber mit Piercings die Möbel aus dem alten Elternhaus. Dort, am Freiburger Stadtrand, hatte Susanna Filbinger-Riggert die Tagebücher ihres Vaters gefunden, von deren Existenz die fünf Kinder des einstigen Ministerpräsidenten Baden-Württembergs keine Ahnung gehabt hatten. Sechzig von Hand beschriebene Kladden hat Hans Filbinger hinterlassen. Als Älteste empfand Susanna die Verpflichtung, die Manuskripte an sich zu nehmen. Lesend wollte sie darin auch den Ursachen für einen schweren Schock auf den Grund gehen, der noch in ihr nachwirkte. 1978, als der Vater plötzlich im Verdacht stand, während der NS-Zeit ein „furchtbarer Jurist“ gewesen zu sein, hatte die Tochter den Halt verloren. „Es war mein Weltuntergang“, schreibt sie in ihrem eben im Campus Verlag veröffentlichten autobiographischen Bericht mit dem Titel „Kein weißes Blatt“.

Die 1951 geborene Tochter des CDU-Politikers amalgamiert Eindrücke aus ihrer Kindheit und Jugendzeit im Umfeld des bewunderten Vaters mit den Erkenntnissen, die sie sich als älter werdende Erwachsene zumutete. Wie Tausende anderer Kinder und Enkel in Deutschland wollte sie endlich wissen, was wirklich geschah. Und wie in vielen Familien stieß auch in ihrer das Wissenwollen auf Widerstand, etwa bei Geschwistern, die juristisch unter anderem zu verhindern suchten, dass die große Schwester in ihrem Buch Originalzitate des Vaters verwenden würde. Deshalb stehen hier statt der Zitate Zusammenfassungen oder indirekte Rede. Ihre Geschwister, schreibt die Autorin, seien für „Entsorgen“, „ich bin die einzige, die dagegen ist“.

Selbst da, wo gar keine Publikation geplant ist, wehren sich Angehörige oft mit Macht, wenn einer der Ihren wissen will, was die Eltern zwischen 1933 und 1945 getan oder unterlassen haben. So erging es dem Nachkriegskind Ilse B. „Warum lässt Du Vati nicht in Frieden?“ bedrängten sie ihre Geschwister, als sie vor einiger Zeit im „American Document Center“ Antrag auf Einsicht in die Akte ihres Vaters stellte. Vati, argumentierten die Brüder, sei doch schon lange nicht mehr am Leben. „Das Herumwühlen bringt doch nichts.“ Von einer Tante in ihrem kleinen Ort in Süddeutschland hatte Ilse B. gehört, ihr erzkatholischer Vater, der im Rentenalter manisch oft zum Beichten ging, sei gegen Kriegsende Wärter im Außenlager eines großen Konzentrationslagers geworden. Die meisten am Ort hatten davon gewusst, nur die Kinder, die Jüngeren, nicht.

Ilse B., als Naturwissenschaftlerin an Fakten orientiert, studierte die Akte. Mit Entsetzen, wie benebelt. Sie wandte sich an Freunde und an eine Therapeutin, und im Lauf der Jahre lichtete sich der Nebel. Der Ursprung vieler Tabus wurde lesbar. Einige Geschwister aber wollten ab da nichts mehr von ihr wissen, im Wortsinn: Sie wollten nicht wissen, was sie wusste. Der Vater, wenn er auch mal gewalttätig und mürrisch sein konnte, sei an sich ein guter Mensch gewesen, beharrten sie, er war doch nur einer von vielen, man musste damals eben Befehlen folgen, was hätte er denn tun sollen?

Jenseits der historischen Archive und Seminare, in der Sphäre des Privaten, wird das Erkunden unbekannter, historischer Bereiche oft als „im Dreck herumwühlen“ oder „Verrat“ denunziert. Die so sprechen erfüllen das Mandat der Tabuverpflichter, sie wollen den abschrecken, der aufdeckt. Dann personifiziert der Tabubrecher selber das Abgespaltene, beim ihm oder ihr wird der geleugnete, traumatische, mit Scham, Schuld und Angst besetzte Inhalt, der „Dreck“, deponiert, damit die anderen weiter leugnen können.

Lange galt es nach dem Zweiten Weltkrieg als unangemessen, von den Traumata der Täter zu sprechen, geschweige denn denen der Täterkinder. Als einer der ersten löste der couragierte israelische Psychologieprofessor Dan Bar-On (1938 – 2008) diese Blockade. „Die Last des Schweigens. Gespräche mit Kindern von Nazi-Tätern“ hieß sein 1993 auf deutsch erschienenes Buch. Zuvor hatte er jahrelang mit den Kindern von Holocaust-Überlebenden gearbeitet und die Traumata der Zweiten Generation beschrieben.

Dan Bar-Ons Befund einer zentralen Ambivalenz bei den Täterkindern bleibt bis heute gültig: Sie wünschten zugleich die Anerkennung ihres Dilemmas und das Vergessen. „Opa war kein Nazi“, der Titel einer deutschen, soziologischen Studie von 2002 ist zum geflügelten Wort geworden. Inzwischen nun haben mehrere NS-Täterkinder wie Niklas Frank, Katrin Himmler, Beate Niemann oder Richard von Schirach Berichte veröffentlicht, es haben sich sogar Gruppen von NS-Kindern und -Enkeln gegründet, die sich mit ihrem psychischen Erbe auseinandersetzen. Nicht aus Respekt vor den Opfern des NS-Regimes jedoch, das wird immer deutlicher, hatten die Abkömmlinge geschwiegen, sondern um sich selber und die Eltern, die Tätergeneration, zu schonen.

Jede Familie ist ein Archiv der Lebenden und der Toten, ein Archiv mit zugänglichen und unzugänglichen Kammern. Ob ein Suizid, eine Vergewaltigung, ein außereheliches Verhältnis oder eine Kindstötung verschwiegen, vertuscht, verleugnet wird, Familiengeheimnisse sind universell. Und destruktiv wirken das Verleugnen wie das Verdrängen von Traumata überall.

Als Folge des Zivilisationsbruchs im Nationalsozialismus aber wurde das Potenzial von „Familiengeheimnissen“ derart ungeheuerlich, dass sie eine neue Dimension annahmen. Viele der Millionen deutschen Familien, die auf die eine oder andere Art in das NS-System verstrickt waren, besitzen bis heute Archivkammern, deren Inhalte so unaussprechlich vom Menschlichen entfremdet, so belastend und verstörend sind, dass das Brechen des Schweigegebots existenziell bedrohlich wirken kann. Das soziale, politische Erwachen der meisten deutschen Kinder, die nach 1945 geboren wurden, ging damit einher, dass sich aus einer Atmosphäre aufgeladenen Schweigens nach und nach Wortbrocken, Begriffe, lösten, die auf etwas Schreckliches deuteten. Man lebte, erfuhr man, nicht im Land der Dichter und Denker, sondern der rassistischen Richter und Henker.

In diesen Wochen werden die vielleicht letzten lebenden NS-Täter vor Gericht gestellt, einstige Aufseher im Todeslager Auschwitz. Sie sind weit über neunzig Jahre alt. Es hat den Anschein, als würde sich das Problem der Täter und ihrer Tabus erledigen, einfach indem sie aussterben.

Doch Traumata sind emotionale, neurophysiologische Erbstücke. Unaufgelöst wandern sie von einer Generation zur nächsten. Traumatische Inhalte wohnen in Worten genauso wie im Nichtgesagten, sie sabotieren die Subjekte insbesondere da, wo nicht gesprochen, gefragt werden darf. Weder auf der Zeitachse noch in der Biographie des Einzelnen in den Täter- und Mitläuferfamilien gab es ja eine Stunde Null. Dieselben Menschen lebten weiter, ihre Deformationen brachten sie mit in die Familien, die sie selber gründeten.

Transgenerationelle Traumatisierung nennt die Psychoanalyse das subkutane Weiterreichen traumatischer Inhalte. Traumata entstehen durch Erfahrungen, die derart überfordernd sind, das Nerven und Psyche nicht angemessen reagieren können. Was passiert, macht „fassungslos“, es übersteigt das seelische und körperliche Fassungsvermögen, es sprengt den seelischen Rahmen. Je jünger ein Mensch ist, desto nachhaltiger.

Aber das, was nicht „gefasst“ werden konnte, ist deshalb keineswegs fort. Eingekapselt rumort das Abgespaltene in der Psyche weiter, und schon kleine Kinder spüren sehr genau, wenn Eltern mit solchen inneren Sprengsätzen existieren. Kinder übernehmen die Spannungen und Tabus, weil sie die Eltern entlasten müssen, weil sie sie imitieren, und weil sie nichts anderes kennenlernen.

In sämtlichen Kohorten – angefangen von den Kindern, die zwischen Trümmern groß wurden bis zu den Enkeln eben dieser Generation – gibt es inzwischen Individuen, die Material aus den bisher versperrten Räumen der Familienarchive ans Licht holen wollen. Bei Susanna Filbinger-Riggert war es buchstäblich so. Nach dem Tod des Vaters im April 2007 hatte die Mutter dessen Arbeitszimmer abgeschlossen und den erwachsenen Kindern den Zugang verwehrt. Erst als auch die Mutter das Zeitliche gesegnet hatte, entdeckte die Tochter dort die Aufzeichnungen des Vaters, auch aus den Kriegsjahren.

Wie es typisch ist für solche Dokumente findet sich in ihnen wenig Konkretes über die „Arbeit“, auch nichts über das kurz vor Kriegsende von Filbinger unterzeichnete Todesurteil gegen einen jungen Matrosen, der von der Wehrmacht desertiert war. Susanna Filbinger-Riggert kommt zu dem Schluss: „Mein Vater war Marinerichter in einem totalitären, verbrecherischen System und hat als solcher moralisch Schuld auf sich geladen. Wie viele andere Offiziere hat er sich für das Funktionieren des ,Systems Wehrmacht’ instrumentalisieren lassen.“

Gleichwohl, er habe „mit sich gerungen“, glaubt die Tochter, und bescheinigt ihm zum Schluss: „Ich habe keinen Beleg gefunden für den Nazi.“ Einen furchtbaren Juristen? Den will sie nicht gesehen haben. In der Erzählung ihrer Kindheit und Jugend jedoch steckt, von außen unübersehbar, bisweilen ein furchtbarer Vater, ein Psycho-Nazi. Über Gefühle, das erwähnt die Tochter mehrfach, wurde in der Familie nicht gesprochen. Ungehorsam der Kinder wurde physisch brutal bestraft. Mit der drohenden Faust über dem Hinterkopf der Kinder fragte der Vater Schulwissen ab und schlug mit „Kopfnüssen“ zu, wo es daran mangelte. Zu strapaziösen Wandertouren wurden die widerstrebenden Kinder gezwungen.

Einmal wurde das junge Mädchen zufällig Zeugin, als sich eine Frau vom Balkon einer Klinik in den Tod stürzte. Erschüttert erzählte sie es Minuten später den Eltern, die sie aus dieser Klinik abholten, und der Mutter wurde davon flau. Anstatt das Mädchen zu trösten, herrschte der Vater sie an, so dürfe man seine Mutter nicht erschrecken, so etwas behalte man zunächst gefälligst für sich. Den Politiker, erinnert sich die Autorin, interessierte vor allem seine Karriere, die Mutter ihre Rolle als glamouröse Gattin.

Die erste große Liebe der jungen Frau – zu einem nach konservativen Kriterien passenden Mann – torpediert der Vater mit einem „Machtwort“. Ihr Wunschstudium wird ihr aus Kostengründen verweigert – und immer bleibt ein befreiender Aufschrei schmerzlich aus. Aus der rebellischen Internatsschülerin Susanna, die die Rolling Stones hört, wird – ohne dass sie es im Geringsten zu steuern scheint – eine Lobbyistin in der Rüstungsindustrie; sie wundert sich später selber darüber. Womöglich brach sich auch in dieser Biographie der Wiederholungszwang Bahn, dem Nachkriegsdeutschlands Kohorten auf zahlreichen Feldern unterworfen schienen, vom rechten Heimatfilm bis zum linken Antisemitismus.

War Vati wirklich kein Nazi? Gefühlskälte für Disziplin auszugeben, Härte als Charakterstärke zu preisen, Grausamkeit als Unsentimentalität – solche emotionalen Rochaden folgten Begriffswelten, zu denen Wörter wie „traditionell“ „preußisch“ oder „soldatisch“ gehörten. Die Rochaden reichen bis weit vor 1933 zurück, und sie pervertierten danach vollends. Vater Filbinger und seine Frau als Komplizin verhielten sich, ganz gleich, wie prominent sie waren, ihren Kindern gegenüber schlicht so, wie es für Millionen in der NS-Zeit sozialisierte Eltern typisch war. Ihre Älteste schreibt heute, scheint es, weniger für die Gesellschaft oder im Sinn historischer Aufklärung. Sie schreibt einen Brief an die Eltern im Himmel und die Geschwister auf Erden. Sie beteuert: Vater war kein Nazi!

Zwischen den Zeilen allerdings nimmt sie, ohne Absicht, genau diese Aussage zurück. So ist ihr Buch „Kein weißes Blatt“ auch ein Symptom dafür, wo sich die Debatte der deutschen Generationen gerade befindet. Das Blatt ist nicht mehr weiß. Aber es steht noch längst nicht alles darauf, was wahr war.

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