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Ein Ermittler zeigt ein Modell der Handgranate, die in Villingen-Schwenningen über den Zaun einer Flüchtlingsunterkunft geworfen wurde.

© Patrick Seeger/dpa

Anschlag mit Handgranate in Villingen-Schwenningen: Terror gegen Flüchtlinge - von neuer Qualität

Eine Handgranate auf ein Flüchtlingsheim, ein Schuss auf einen AfD-Wahlhelfer: Es ist Zeit, die Erregung in Deutschland wieder herunter zu dimmen, ehe der Wahnsinn weiter eskaliert. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Frank Jansen

Eine Handgranate ist eine Kriegswaffe mit potenziell tödlicher Wirkung. Frei verkäuflich ist so etwas nicht, wer den Sprengkörper benutzt, ist entweder Soldat oder Profigangster – oder Terrorist. Und so hat Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius wahrscheinlich Recht, wenn er den Wurf einer Handgranate auf die Unterkunft von Flüchtlingen in Villingen-Schwenningen als „Terrorismus“ bezeichnet.

Auch wenn der oder die Täter bisher nicht bekannt sind, ist ein rassistisches Motiv naheliegend. Und damit leider der Befund, dass die Flüchtlingsdebatte in immer mehr Köpfen zu einer Radikalisierung führt, die Menschen das Leben kosten kann. Und das betrifft nicht nur Flüchtlinge.

Der Schuss auf einen Wahlhelfer der AfD in Karlsruhe scheint ebenfalls ein gezielter Anschlag gewesen zu sein. Selbst wenn der Täter nur mit einer Luftdruckpistole gefeuert haben sollte, hat er doch offenbar eine schwere Verletzung des Opfers wenigstens in Kauf genommen. Ein Attentat aus Hass auf Rechtspopulisten – auch das wäre Terror, der durch nichts zu rechtfertigen ist. Auch nicht durch die flüchtlings- und islamfeindliche Hetze der AfD.

Eine gruselige Emotionalisierung

Womöglich trägt der Wahlkampf in Baden-Württemberg dazu bei, dass einige Flüchtlingsfeinde und Flüchtlingsfreunde noch irrer und mit noch mehr krimineller Energie agieren als woanders. Der Fall des erfundenen Toten am Lageso in Berlin zeugt ebenfalls von einer geradezu gruseligen Emotionalisierung. Und ein Ende ist nicht in Sicht. Vielmehr ist zu befürchten, dass es bald Tote gibt. Auf welcher Seite auch immer. Und dass sich die Gegenseite gewaltsam rächt.

Wie dieser Wahnsinn zu stoppen wäre, ist schwer zu erkennen. Zumal Politik und Behörden nur bedingt einer weiteren Eskalation vorbeugen können. Denn es ist wohl nur eine Frage der Zeit, dass Deutschland von einem verheerenden Angriff islamistischer Terroristen getroffen wird. Polizei und Nachrichtendienste halten es für nahezu unausweichlich.

Eines der Hit-Teams der Terrormiliz IS wird es vermutlich schaffen, hier zuzuschlagen. Die möglichen Reaktionen: pogromartige Krawalle wie einst in Hoyerswerda und Rostock, tödliche Anschläge wie in Mölln und Solingen, noch mehr Hass auf Politiker und „Lügenpresse“.

Verunsicherung ist der Humus für Vertrauensverlust

Schon deshalb muss jetzt die Erregung in Deutschland wieder herunter gedimmt werden. Aber wie? Voraussetzung wäre eine spürbare Abnahme der Verunsicherung, die weite Teile der Bevölkerung angesichts des Zustroms von Flüchtlingen und der sexistischen Krawalle in Köln erfasst hat.

Verunsicherung ist der ideale Humus für den Verlust an Vertrauen in Regierungen, Parlamente und Behörden, für Radikalisierung, für Fantasien von Selbst- und Lynchjustiz. Das wird Angela Merkel, die herausragende Symbolfigur beim Thema „Flüchtlinge“, selbstverständlich wissen. Aber es gelingt ihr nicht, der Bevölkerung zu vermitteln, wie die tektonische Verschiebung im Land zu bewältigen sein könnte.

Es gelingt auch Horst Seehofer nicht oder sonst einem Politiker. Auch keinem Journalisten, wäre hinzuzufügen. Und so verfestigt sich Ratlosigkeit und schlägt mehr und mehr um in Angst und Aggressivität. Eine große moralische Instanz, die zu Besonnenheit mahnen und glaubwürdig positive Perspektiven aufzeigen könnte, ist nicht in Sicht. 2016 wird kein gutes Jahr für Deutschland.

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