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Menschen brauchen Rituale, über die wiederum die Medien berichten – wie von der Trauer der Menschen nach den Anschlägen von Barcelona.

© Matthias Balk/dpa

MEDIA Lab: Eine Mikrobe für die Statistik

Jetzt also Barcelona und Spanien. Zuvor Paris, Brüssel, Berlin, London - so unberechenbar der Terrorismus ist, so berechenbar agieren die Medien.

Die Attacken islamistischer Attentäter und anderer Amokläufer sind unberechenbar und unvorhersehbar, aber vorhersehbar und berechenbar ist die Art und Weise, wie die Medien darauf reagieren. Nur allzu willig verbreiten sie die Kernbotschaft der Terroristen weiter: Es kann jeden von uns treffen, überall und jederzeit. Mit ihrer gehypten Terror-Berichterstattung und auch mit ihrer Fokussierung auf die Täter statt auf die Opfer erzeugen viele Medien berechenbar Angst – und sie verursachen immer wieder massive wirtschaftliche Schäden, nicht nur für die Tourismus-Branche. Außerdem generiert die medial geschürte Angst rasante Budgetzuwächse für all jene Überwachungsindustrien und -behörden, die vermeintlich „Sicherheit“ produzieren, in Wirklichkeit aber oftmals doch nur ziemlich hilflos zugucken – erinnert sei an die Fahndungspannen im Fall Anis Amri, aber auch bei der NSU.

Risikoforscher wie Gert Gigerenzer, Leiter des Max Planck Instituts für Bildungsforschung in Berlin, mahnen zur Besonnenheit: Die Gefahr, durch Blitz erschlagen zu werden, sei weiterhin höher, als durch Terror zu sterben. „Ich fürchte mich persönlich viel mehr, auf der Straße durch einen Fahrer ums Leben zu kommen, der am Steuer Texte schreibt oder auf WhatsApp oder Twitter schaut, als durch einen Terroristen“, gab er zu Protokoll. Auch der Schweizer Kult-Journalist Constantin Seibt rechnet vor, die Gefahr, Opfer eines islamistischen Anschlags zu werden, sei verschwindend klein: „Seit dem World-Trade-Center-Attentat 2001 ermordeten islamistische Attentäter in Westeuropa und den USA etwa 450 Menschen. So grausam jeder dieser Morde ist, es gibt Gefährlicheres. Allein in Deutschland ersticken pro Jahr über 1000 Leute an verschluckten Fremdkörpern.“

Kritik am Verschweigen

Ein weiterer Forscherkollege, Norbert Bolz von der TU Berlin, spitzt zu, nicht das Lügen, sondern das Verschweigen sei das zentrale Glaubwürdigkeitsproblem des Journalismus. Vermutlich meint er damit auch solche Kontextinformationen, die uns helfen könnten, gelassener mit Terroranschlägen und Terrorangst umzugehen. Der islamistische Attentäter funktioniere, so noch einmal Seibt, „wie der Hai oder der Wolf: ein Monster für die Fantasie, eine Mikrobe für die Statistik“.

Stephan Russ-Mohl

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