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Wie sollen digitale Inhalte archiviert werden? Diese Frage stellt sich nicht nur für Spiele wie "Missile Command", sondern genauso für Texte oder Digitalfotos.

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Digitales Gedächtnis: Rettet die Daten!

Digitale Fotos, Filme oder Computerspiele: Wegwerfen ist leicht, Aufbewahren ist schwierig. Aber für das kulturelle Gedächtnis unerlässlich.

Von Hendrik Lehmann

In Emmendingen, nicht weit von Freiburg, steht das Deutsche Tagebuchmuseum. Die rund 13 000 Tagebücher, Lebenserinnerungen und Briefe, die dort lagern, sind das umfassendste Archiv privater Lebenserinnerungen des Landes. Neben großartig banalen Sätzen wie „Ich weiß nicht wie es kommt, aber ich habe mich in Bernd verliebt“ sind dort genauso Geschichten von Vertreibung, Umsturz und Mentalitätswandel zu finden.

Heute werden persönliche Erinnerungen eher abgespeichert als zu Papier gebracht. Tumblr-Blogs, Facebook-Posts und Flickr sind für Millionen die Medien ihrer Wahl, wenn es darum geht, etwas festzuhalten. Diese in Echtzeit produzierten Daten müssten so ausgiebig wie authentisch davon Zeugnis ablegen, wie es sich heute so geliebt und gehasst hat. Das Internet vergisst schließlich nie, heißt es.

Genau das Gegenteil ist der Fall, meint Paul Klimpel, der gerade ein Buch zum Thema „Digitale Langzeitarchivierung“ herausgegeben hat. Hinter der sperrigen Formulierung verbirgt sich für ihn die Frage, „ob wir im Rückblick eine Art dunkles Zeitalter erleben, aus dem es nur sehr wenige Überlieferungen geben wird“. Klimpel hat Beispiele. Urlaubsfotos sind eines davon: „Fragen Sie einmal jemanden, wo denn seine Urlaubsfotos von vor drei Jahren sind, die damals mit dem Handy gemacht wurden“, sagt Klimpel. Und fügt triumphierend hinzu: „Die Antwort ist meistens ein Kratzen am Kopf.“ Das liegt daran, sagt der Jurist, dass bei digitalen Daten aktives Handeln nötig sei, um sie durch fortwährendes Kopieren zu bewahren, während man bei analogen Datenträgern wie Negativen oder Briefpapier aktiv eingreifen muss, um sie zu zerstören.

Bevor sich Klimpel mit digitalem Erbe beschäftigt hat, war er Verwaltungsdirektor bei der Deutschen Kinemathek. Er hat erfahren müssen, dass die ersten Jahre neuer Medien oft verloren gingen. Weite Teile der Anfänge des Radios seien genauso verschollen wie frühe Filme und Fernsehsendungen: „Wann immer eine neue Technik aufkommt, steht zunächst die Begeisterung für diese Technik und deren Verwertbarkeit im Vordergrund.“ Darüber, wie man die neuen Kulturgüter bewahren könnte, mache sich kaum jemand Gedanken. Ein Problem, das in Bezug auf die Digitalisierung ungleich schwerer wiegt. Denn die beschränkt sich nicht auf einen Kulturbereich, sondern auf ein Universum von Online-Kochbüchern, über Youtube-Videos bis hin zu Softwareentwicklung.

Für nichts davon ist eines der traditionellen Archive zuständig. Das Problem der digitalen Konservierung stellt sich aber auch dort. Deswegen haben sich mehrere Museen, Archive und Firmen zum Kompetenznetzwerk „nestor“ zusammengeschlossen. Die Deutsche Nationalbibliothek – gesetzlich verpflichtet zur Bewahrung von Text und Ton, der in Deutschland produziert wird – ist bislang die einzige Institution, die eine volle Stelle für das Netzwerk finanziert. Es ist der Arbeitsplatz von Armin Straube. Er erklärt die besonderen Herausforderungen beim Archivieren digitaler Objekte: „Das Problem ist, dass sich die Software- und Hardwareumgebung ständig wandelt“. Ein Word-Dokument von heute lässt sich in 20 Jahren wahrscheinlich nicht mehr so einfach öffnen. Dasselbe gilt für eBooks, Lernprogramme oder Musik. Lösungen gibt es für das Problem grundsätzlich zwei: Die Migration oder die Emulation. Im ersten Fall wird die Datei in ein Format umgewandelt, das auch morgen noch lesbar ist. Bei der Emulation hingegen wird die Umgebung der Datei simuliert, also Betriebssystem und teilweise der Computertyp, der zu der Zeit benutzt wurde. Das bedeutet aber auch, dass man sich nicht nur entscheiden muss, welche Daten erhalten bleiben, sondern auch was von den Dateien erhalten bleiben soll. Wenn es um „Look and Feel“ geht, wie Straube es nennt, also darum, wie genau der Text einmal aussah, dann ist ein besonderes PDF-Format am sinnvollsten.

Seit 2006 hat die Deutsche Nationalbibliothek auch den Auftrag, digitale Texte und Musik zu archivieren. Das tut sie unter anderem durch Web Harvesting. Dahinter verbirgt sich, dass zu bestimmten Themen Programme losgeschickt werden, die Websites abspeichern, auf denen das Thema vorkommt. Verfügbar für Forscher sind diese Daten noch nicht. In den USA hingegen speichert die Library of Congress alle Twitternachrichten, die gesendet werden. Ihr Archiv umfasst bislang 170 Milliarden Tweets.

Eines der Kulturgüter, die den Experten am meisten Sorgen bereiten, ist der Film. Die ersten Stummfilme bestechen durch ihr grobkörniges Schwarz-Weiß und die zu schnellen Bewegungen der Schauspieler. Einmal nachzuverfolgen, wie heute Filme aussahen, wird schwieriger. Denn wie bei der Wiedergabe von Fotos spielt der Bildschirm oder Projektor eine wesentliche Rolle dabei, wie die Farben wirken oder wie stark die Kontraste sind. Jan Fröhlich hat sich mit dieser Frage des Farbraums jahrelang in seiner Arbeit bei der Postproduktion von Filmen beschäftigt. Die Farbkorrektur, schreibt er in einem Beitrag in Klimpels Buch, ist eines der wichtigsten Mittel im Film, um subtil Stimmungen zu erzeugen. Die Farbräume selber ändern sich ununterbrochen. Um in einigen Jahrzehnten also erleben zu können, wie sich heute ein Film angefühlt hat, müssen auch Daten von aktuellen Projektoren, Bildschirmen und eben den verwendeten Farbschemas abgespeichert werden. Und da viele Filme inzwischen eher per Streaming im Netz geschaut werden, müssten auch davon Versionen abgespeichert werden, Farben und Ton sind hier völlig anders als im Kino.

Neben den technischen Problemen, die eine nachhaltige Sicherung aktueller Kultur mit sich bringt, sind meist rechtliche Fragen die größten Hindernisse. Filme beispielsweise haben unzählige Urheber und erst wenn die alle gefragt wurden, darf ein Film kopiert werden.

Während bei Filmen und Lexika inzwischen schon hier und dort die Alarmglocken läuten, ist der Kern der digitalen Revolution, nämlich die Programme selber bislang kaum Gegenstand umfassender Archivbemühungen. Die Ausnahme bilden hier ausgerechnet diejenigen, die viel zu oft müde belächelt werden: leidenschaftliche Computerspieler. Die arbeiten schon seit Jahren daran, auch alte Spiele auf neuen PCs zum Laufen zu bringen. Da Spiele zu den komplexesten Programmen gehören, sind ihre Erfahrungen für viele Bereiche wertvoll geworden, erklärt Andreas Lange, Direktor im Computerspielemuseum Berlin. Inzwischen kommen die ersten klassischen Archive zu ihnen, um sich Rat zu holen, wie ein Programm wieder benutzt werden kann, das beispielsweise ein verstorbener Schriftsteller oder Wissenschaftler hinterlassen hat. Ohne die oftmals rechtlich fragwürdigen Konservierungsexperimente der Spieler-Gemeinschaft wäre das nie möglich geworden, wird Lange nicht müde zu betonen.

Die Zeugnisse bekannter Autoren, Regisseure und Musiker haben letztlich weiterhin ganz gute Chancen, der Nachwelt erhalten zu bleiben. Anders sieht es mit unserem digitalen Alltag aus. Private Fotos, Videos und E-Mails werden wohl mit jeder altersschwachen Festplatte und verlorenen Speicherkarte mehr verloren gehen.

Die Geschichte wird so einmal mehr von staatlichen Institutionen oder Konzernen aufgeschrieben. Wirklich neu ist das nicht. Aber es bedeutet eine Absage an das Demokratisierungsversprechen der euphorischen Internetanfänge. Paul Klimpel sieht daher die größte Herausforderung darin, eine breite gesellschaftliche Debatte darüber zu führen, was von den Datenfluten wir eigentlich aufheben wollen.

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