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In der analogen Welt ermöglicht die Brailleschrift Blinden, gedruckte Texte zu lesen.

© picture alliance / ZB

Barrierefreie Webseiten: Blind durchs Internet

Knapp acht Millionen Deutsche sind behindert - und viele von ihnen besonders technikaffin. Doch im Netz fallen die Barrieren erst langsam, zumeist aus Gedankenlosigkeit.

Robert Gemeinhardt hat einen ziemlich kniffeligen Beruf. Er ist als Programmierer unter anderem dafür zuständig, die riesigen Datenmengen, die das Statistische Bundesamt veröffentlicht, so zu gestalten, dass auch Blinde sie lesen können. Würden die Informationen aus Fließtext bestehen, wäre das kein Problem, erklärt der 46-Jährige, der selbst blind ist. Dann müssten die Texte lediglich ordentlich strukturiert und mit Formatvorlagen versehen werden. „Aber wir veröffentlichen Zahlen, die zum größten Teil aus dynamischen Datenbanken generiert werden.“

Ein sehender Nutzer kann durch die Tabellen scrollen und sich dabei relativ schnell einen Überblick über die Zahlenreihe verschaffen. Für Blinde ist das Lesen von großen Tabellen deutlich komplizierter. Denn sie nutzen in der Regel zwei Hilfsmittel, wenn sie mit digitalen Oberflächen arbeiten: Zum einen den Screenreader, ein Sprachprogramm, das digitalisierte Texte vorliest. Zum anderen eine Braillezeile, ein Ausgabegerät, das digitale Schriftzeichen in Brailleschrift übersetzt. Die Braillezeile sieht aus wie eine Art Fühl-Tastatur. Der Text, der auf dem Bildschirm zu sehen ist, wird von der Braillezeile durch kleine Stifte dargestellt, die piezo-elektronisch angehoben werden. Mit dem Gerät kann allerdings immer nur ein kleiner Ausschnitt des Bildschirms gelesen werden. „Wenn Blinde durch Tabellen navigieren, dann bekommen sie nur den Inhalt einer Zelle angezeigt oder vorgelesen, dabei wäre es hilfreich zu wissen, was jeweils Kopf- und Vorspalte ist.“

Um das zu gewährleisten, programmiert Gemeinhardt für seinen Arbeitgeber komplexe Softwarelösungen. „Das ist ein langer Prozess, der auch noch nicht abgeschlossen ist.“ Dass das Statistische Bundesamt sich überhaupt die Mühe macht, seine Inhalte barrierefrei zu gestalten, hat mit der BITV zu tun, der „Verordnung zur Schaffung barrierefreier Informationstechnik nach dem Behindertengleichstellungsgesetz“, die es in Deutschland seit 2002 gibt und die für alle Internetangebote von Bundesbehörden gilt. In der Richtlinie ist genau festgehalten, wie barrierefreies Webdesign aussehen sollte.

Kritische Stimmen gibt es trotzdem. „Die BITV ist ein sehr heikles Thema, vor allem weil sie weder auf Länderebene noch für Unternehmen der freien Wirtschaft bindend ist“, sagt Marco Zehe, der als Programmierer bei Mozilla arbeitet und ebenfalls blind ist. Zehe ist nicht nur für die Barrierefreiheit des Firefox-Browsers und des Thunderbird-Mailprogramms zuständig, er berät regelmäßig auch andere Firmen bei der Gestaltung ihrer Seiten. „Die Standards im deutschen Internet sind sehr unterschiedlich“, sagt er. „Manche Webentwickler und Agenturen stehen stark hinter dem Thema, andere sind immer noch völlig ignorant.“ Dutzende Male hat sich Zehe in den letzten Jahren ärgern müssen. Manchmal wurden sogar Webseiten, die für Blinde bislang gut nutzbar waren, nach einem Relaunch komplett unlesbar. „Ich habe über einige dieser Fälle auf meinem Blog geschrieben, oft bin ich anschließend mit den Firmen ins Gespräch gekommen.“ Und viele Unternehmen haben dann nachgebessert.

Aber es tauchen immer wieder neue Hürden auf. Das größte Ärgernis, da sind sich Marco Zehe und Robert Gemeinhardt einig, sind derzeit die sogenannten ‚Captchas‘, kleine Bilder mit schwer lesbaren Buchstaben, die der Nutzer entziffern und abtippen muss, um sich auf einer Webseite einloggen zu können. Das Verfahren dient dem Spamschutz und wird von immer mehr Sozialen Netzwerken, Banken oder Onlineshops genutzt. Weder die Braillezeile noch die Sprachsoftware können mit den Bildelementen etwas anfangen. „An Captchas scheitern aber nicht nur Blinde, sondern auch Menschen mit Sehbehinderung oder Lese-Rechtschreibschwäche“, sagt Zehe. Der automatisierte Test ist seiner Meinung nach völlig unnötig, es gäbe auch andere Möglichkeiten, Spamangriffe abzuwehren. „Captchas sind nur der Faulheit der Entwickler geschuldet.“

Auch andere unbedachte Programmierfehler schließen bestimmte Nutzergruppen aus oder erschweren ihnen den Umgang mit den digitalen Oberflächen. Wenn zu wenig Farbkontrast auf der Seite benutzt wird, können Sehbehinderte nichts erkennen. Blinde scheitern, wenn in Formularen Buttons oder andere grafische Elemente nicht mit einem Alternativtext versehen werden. Oder wenn Dokumente im PDF-Format, die von Behörden oder Versicherungen im Internet hinterlegt sind, über den Druckassistenten erstellt wurden – statt über den Exportassistenten von Adobe Acrobat. Im ersten Fall entsteht ein für Blinde völlig unbrauchbares Foto, im zweiten eine für den Screenreader gut lesbare Oberfläche. „Ich gebe in unserem Haus Fortbildungen, bei denen ich das Erstellen von barrierefreien PDFs erkläre“, sagt Gemeinhardt. „Man muss nur einmal wissen, wie es geht, dann kann man es mit wenigen Klicks problemlos umsetzen.“ Es mache weder mehr Mühe noch koste es Geld.

Das Argument, Barrierefreiheit sei für viele Webseitenbetreiber zu umständlich, lässt auch Christina Marx von der „Aktion Mensch“ nicht gelten. Schon lange setzt sich der Verein für Mindeststandards im barrierefreien Webdesign ein. Knapp acht Millionen behinderte Menschen leben in Deutschland – und viele von ihnen sind ausgesprochen technikaffin. „Wir wissen, dass Menschen mit Behinderungen das Internet überproportional oft nutzen.“ Viele sind außerdem begeisterte Smartphone- und Tablet-Benutzer. Das hat seinen Grund. „Die mobilen Anwendungen ermöglichen Menschen mit Behinderungen auch eine größere Mobilität im analogen Alltag“, sagt Marx. Das fängt bei der bequemen Sprachsteuerung an, geht über Gehörlosen-Apps, die gesprochene Sprache in Echtzeit verschriftlichen, und reicht bis zu Angeboten wie wheelmap.org, einem Kartendienst, mit dem sich weltweit rollstuhlgerechte Orte finden lassen.

Ein Plädoyer für barrierefreie Seiten: Oder warum soll sich ein Unternehmen 50 Millionen potenzielle Kunden entgehen lassen?

Was alle diese Angebote auszeichnet: Sie sind keine Nischenprodukte, sondern können für Menschen in unterschiedlichsten Lebenslagen nützlich sein. „Von der digitalen Barrierefreiheit profitieren alle“, betont Marx. Ältere Menschen, Menschen mit motorischen Schwierigkeiten, Menschen mit Lern- und Konzentrationsschwächen oder mit vorübergehenden physischen Einschränkungen. Die Aktion Mensch fordert deshalb, dass Menschen mit Behinderungen bereits in die Entwicklungs- und Testphase neuer Produkte oder Webseiten eingebunden werden.

Aber was, wenn das schmale Budget keine barrierefreien Sonder-Features wie die Untertitelung von Videos erlaubt? „Ich würde beim Argument Geld immer dagegenhalten, dass den Unternehmen die Barrierefreiheit ja auch immens wirtschaftlich zugutekommt“, sagt Marx. Denn auch behinderte Menschen informieren sich online, pflegen ihre Kontakte online, gehen online einkaufen. Programmierer Robert Gemeinhardt sieht die Sache ganz pragmatisch: „Die Unternehmen sollten sich klarmachen, dass ihnen sonst europaweitweit rund 50 Millionen potenzieller Kunden entgehen.“ Und übrigens seien das sehr treue Kunden: „Wenn ein Behinderter eine Website oder eine App entdeckt hat, mit der er gut klarkommt, dann kommt er gerne immer wieder darauf zurück. “

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