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Im Internet gibt es keine Anonymität, lautete die Botschaft einer Kampagne gegen das illegale Kopieren von Filmen.

© dpa

Anonym oder mit Klarnamen?: Das Netz will dich, wirklich

Zwischen Klarnamenpflicht und dem Recht, sich einen Diskursraum zu verschaffen – auf die Frage nach der wahren Online-Identität gibt es keine einfache Antwort.

Lustig war es auf dieser neuen Spielwiese, dem Internet, Mitte der neunziger Jahre. Ab in den Chat und losflunkern. Als „DirkDiggler27“ ließ sich „Jenny19“ geschmeidiger umwerben als unter dem eigenen Namen. Es ging nicht nur um Namen: Dirk Diggler fuhr Ferrari statt Fahrrad, schaute in seiner Freizeit seinem Bankkonto beim Wachsen zu und nicht dem Gras. Man hat etwas dicker aufgetragen, damals, einfach weil es möglich war. Und gehofft, dass sich hinter „Jenny19“ nicht der Gemüsehändler aus dem dritten Stockwerk verbirgt.

Klassische Chatrooms gibt es immer noch, auch wenn sie heute einen wesentlich geringeren Teil der Netzkultur ausmachen. Sie sind vielfach aufgegangen in sozialen Netzwerken, Messengern und Smartphone-Applikationen wie WhatsApp. Erwachsene Nutzer sind heute abgebrühter, Plattformen für Kinder finanzieren ganze Abteilungen, um unerwünschte Besucher mit falschen Identitäten fernzuhalten. Was sich seit den Zeiten der unbekümmerten Maskerade vor allem verändert hat, ist das Internet selbst. Das Netz ist keine Spielwiese mehr. Menschen werden in die Zange genommen: Geheimdienste und soziale Netzwerke, die Nutzerdaten monetarisieren, haben die wahren Identitäten der Webnutzer zur Währung gemacht. Forderungen nach Klarnamen in Foren oder gar beim Surfen generell trüben gleichzeitig die Aussichten für digitale Versteckspiele.

Der deutsche Presserat fordert neuerdings, dass Beiträge in Onlineforen wie Leserbriefe behandelt werden, womit sie deutlich aufwendiger und zügiger geprüft werden müssten. Da deren schiere Masse bei Diskussionen über emotional aufgeladene Themen – beispielsweise das neue Buch von Thilo Sarrazin – für kaum eine Onlinezeitung beherrschbar wäre, rückt die Klarnamenpflicht wieder in den Fokus. Unter dem eigenen Namen hetzt es sich nun einmal weniger unbeschwert, so die Annahme. Als der Tagesspiegel vor gut einer Woche über die Pläne des Presserats berichtete, entbrannte unter dem Artikel eine turbulente Diskussion. Viele Leser waren sich einig: Unter ihrem richtigen Namen kommentieren sie lieber nicht mehr.

Die Idee, dass die Freiheit des Wortes nur für den gelten sollte, der mit seinem Namen zu diesem Wort steht, ist rechtlich wie auch moralisch nachvollziehbar – und dennoch fatal. Zunächst einmal ist das Netz ein grenzenloser Raum. Wer früher am Tresen unter Freunden seine Enttäuschung über den sozialen Kahlschlag durch die SPD beklagt hat, wird sich diese Kritik im Internet unter seinem Namen zweimal überlegen, wenn sein Chef Sozialdemokrat ist. Außerdem ist das Internet ein zeitloser Raum. Es mag gerechter Spott sein, den deutschen Atomausstieg mit wohlwollenden Zitaten von Kanzlerin Merkel zur Atomkraft zu unterlegen. Dennoch müssen Menschen ein Recht auf Meinungsänderung haben. Das Internet vergisst nicht.

Menschen verstecken sich hinter der Anonymität, sagen die Klarnamen-Verfechter

Die Klarnamenpflicht ist ein Schritt auf dem Weg zu einem Netz, das nur die wahre Identität akzeptiert. Ein Zitat der früheren Facebook-Marketingchefin Randi Zuckerberg lautet: „Ich denke, es sollte keine Anonymität im Internet geben. Menschen verstecken sich hinter der Anonymität und denken, sie können alles sagen.“ Von ihrem Bruder, Facebook-Chef Mark Zuckerberg, sind ähnliche Ansichten überliefert. Klarnamen sind bei der wichtigsten Kommunikationsplattform im Netz im Grunde erwünscht. Angesichts des Geschäftsmodells von Facebook, das die wirklichen Identitäten seiner Nutzer braucht, da sie seine finanzielle Urquelle sind, verwundert diese Einstellung nicht. Doch auch der langjährige Google-Chef und Berater von US-Präsident Obama, Eric Schmidt, hält Anonymität im Netz für „gefährlich“.

Dabei muss nicht erst das Beispiel des vernetzten Oppositionskämpfers aus Damaskus bemüht werden, um die Notwendigkeit von schützenden Netzidentitäten zu begründen. Gesellschaftlich marginalisierte Gruppen, die im öffentlichen Diskurs höchstens als Streitgegenstand auftreten, können sich durch Verschleierung ihres wahren Ichs Diskursraum verschaffen. Die als „Lady Bitch Ray“ bekannt gewordene Sprachwissenschaftlerin Reyhan Sahin untersucht deshalb Onlineidentitäten von jungen Musliminnen in Deutschland. „Natürlich können sie im Netz Sachen sagen, die sie sonst nicht sagen würden“, sagt Sahin.

Als Gegenbeispiel werden terroristische Netzwerke oder auch Einzeltäter wie der rechtsradikale norwegische Massenmörder Anders Breivik herangezogen. Bevor er 77 Menschen tötete, hetzte Breivik unter einem Pseudonym in Netzforen. Der damalige Innenminister Friedrich forderte das Ende der Anonymität im Internet. Später rückte er wieder von dieser Position ab. Wohl auch deshalb, weil die Behörden neben der Ermittlung von IP-Adressen – die einzelne Computer im Netz identifizierbar machen – bei schweren Straftaten weitere Methoden wie den „virtuellen Fingerabdruck“ haben, um einzelne Netznutzer zu identifizieren.

In der Netzwelt ist die wahre Identität schnell ermittelt

In der transparenten Netzwelt liegt die wahre Identität dennoch weithin ausgebreitet zu Füßen der eigenen Umwelt. Oder, wie es die Autorin Maike Gosch in ihrem Blog schreibt: „Das Netz saugt wie ein Magnet alle verstreuten Späne der Identitätsspuren und Geschichten zusammen, und nun steht man mit heruntergelassener Hose vor der Öffentlichkeit.“ Das zeitweilig zum Netzkult gewordene ChatRoulette verbindet als weiterentwickelte Form des Textchats zufällig zwei Nutzer, die ihre Webkamera laufen lassen. Der jähe Fall von ChatRoulette dürfte vor allem an vielen offenherzigen Nutzern liegen, die dem Gegenüber lieber ihre Genitalien statt ihre Ansichten präsentierten. Von einem „Identitätsmarkt“ im Netz spricht die Medienwissenschaftlerin Miriam Meckel. Stand in der analogen Arbeitswelt das Arbeits-Ich in Konkurrenz mit anderen, ist es mittlerweile die gesamte Identität. Theoretisch ist niemand verpflichtet, sein wahres Ich auszubreiten. Doch je mehr Menschen es tun, desto fester zementiert sich diese Erwartung gerade in netzaffinen Branchen. Ihr Leben ist nicht auf Facebook nachzulesen? Haben Sie etwas zu verbergen?

Laut einer Studie der Humboldt-Universität empfinden über ein Drittel der befragten Nutzer nach dem Verweilen auf Facebook vornehmlich negative Gefühle wie Frustration. Wesentlicher Grund dafür ist Neid, vor allem auf Reisen und Erlebnisse anderer. Verweigert sich das deutsche Wetter einmal mehr der Anpassung an die Jahreszeit, wird immer jemand gerade Strandbilder aus Bali posten, wenn nur genügend Friends vorhanden sind. Der kalifornische Cyberprophet Jaron Lanier fordert in „Wem gehört die Zukunft?“, dass Netzkonzerne für Nutzerdaten bezahlen. Das vor wenigen Wochen erschienene Buch enthält auch Ideen zur staatlich geregelten Onlineidentität in einer Netzwelt nach Facebook. Wesentlich unschuldiger kommt da das deutsche E-Government-Gesetz daher, das allen Bürgern die Möglichkeit eröffnen soll, verwaltungsbezogene Vorgänge durch eine elektronische, gesicherte Identifikation zu ermöglichen. Die Erschaffung eines eindeutig einer realen Person zugeordneten Netz-Ichs ist also möglich. Nur die einzige mögliche Onlineidentität darf es nicht sein.

KLARNAMENPFLICHT

Facebook kann deutsche Nutzer aus dem Sozialen Netzwerk werfen, wenn sie sich mit Fantasienamen anmelden. Eine Beschwerde des Landeszentrums für Datenschutz (ULD) in Schleswig-Holstein gegen diese Reglung – die jedoch nicht zwangsläufig angewendet wird – hatte das Oberverwaltungsgericht im April 2013 abgewiesen. Die Datenschutzbehörde hatte auf die deutsche Rechtsprechung (Telemediengesetz) verwiesen und von Facebook gefordert, dass Nutzer sich auch mit Pseudonymen anmelden können. Auf Facebook, das seinen technischen Sitz in Irland hat, ist das deutsche Datenschutzrecht jedoch nicht anwendbar. sag

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