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Alibi, Motiv oder nur Ausrede? Kriminalhauptkommissar Ivo Batic (Miroslav Nemec, links) verhört den Verdächtigen Kevin Lischke (Andreas Lust). Szene aus dem „Tatort: Am Ende des Flurs“, der Sonntag um 20 Uhr 15 in der ARD läuft. Foto: BR

© Denise Vernillo

Der Wahrheit auf der Spur: Warum „Tatort“?

Nie war die ARD-Krimireihe populärer als heute. Ein schlaues Buch sucht mit der Philosophie nach Gründen und Abgründen: "Der Tatort und die Philosophie. Schlauer werden mit der beliebtesten Fernsehserie."

Theodor W. Adorno hat nie einen „Tatort“ gesehen. Friedrich Nietzsche nicht, Edmund Husserl nicht. Die ARD-Krimireihe startete 1970, Adorno hat die Premiere knapp verpasst, er starb 1969. Noch toter waren Husserl und Nietzsche. Aber alle drei haben sie Denkfiguren, Thesen und Phantasmagorien hinterlasssen, die zum „Tatort“ passen. Behaupten Adam Soboczynski, Florian Werner und Armin Nassehi, die Adorno, Nietzsche, Husserl mit der Krimireihe zusammenbringen. Aufgefordert von Wolfram Eilenberger, der als Herausgeber des Sammelbandes „Tatort und die Philosophie“ 14 Autorinnen und Autoren für die Durchdringung des Fernsehformats im gedanklichen Dialog mit großen Denkerinnen und Denkern des 20. Jahrhunderts engagiert hat – von den Vertretern der Phänomenologie bis zur Postmoderne, vom Pragmatismus bis zur Kritischen Theorie. Nur glotzen geht nicht länger, jetzt muss auch mitgedacht werden.

Zweierlei gilt über die mal mit forcierter Anstrengtheit und mal mit souveräner Anstrengung formulierten Texte hinweg: Der Leser wird tatsächlich „schlauer mit der beliebtesten Fernsehserie“, wie das Buch im Untertitel angibt. Der Band belegt weniger en detail die Qualität der Krimireihe, als er sie en gros behauptet. Aber gut, was seit mehr als 40 Jahren, nach über 900 Premieren fraglos ist, nicht grundsätzlich diskutiert werden muss. Der „Tatort“ ist halt für alle da, in der Eilenberger’schen Übersetzung (und Übertreibung): „den „,Tatort’ denken heißt immer auch: Deutschland denken“.

Ist die ARD-Reihe wirklich längst jeder Rhetorik des Sich-Beweisen-Müssens enteilt? Was Adorno 1944 im gemeinsam mit Max Horkheimer abgefassten Essayband „Dialektik der Aufklärung“ über die Kulturindustrie festgestellt hat, das lässt sich ohne Zwanghaftigkeit auf das Produkt „Tatort“ übertragen. „Kultur heute“, heißt es bei Adorno prägnant, „schlägt alles mit Ähnlichkeit.“ Die Austauschbarkeit der Stars, die ewig gleichen Motive und Pointen fußten auf einer radikalen Ökonomisierung der Kultur, die vollends dem Tauschprinzip unterworfen sei, bringt Autor Soboczynski seinen Gewährsmann in Stellung. „Der Rezipient ist zum Kunden herabgewürdigt, dem Quotengerechtes geliefert wird: Als gut gilt, was viele Zuschauer erreicht. Eine Klage, die auch heute, und zwar vor allem gegenüber den öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten, vorgebracht wird.“ Wer muss da nicht nicken. Auch der aktuelle „Tatort: Am Ende des Flurs“, geschrieben und inszeniert von Max Färberböck, variiert nur das standardisierte Grundmuster von Ordnung, wird Unordnung, wird in Ordnung gebracht. „Der ,Tatort’ ist das Baldrian der Demokratie“, saldiert Soboczynski seinen Rekurs auf den Grandmaster der kulturindustriellen Kritik.

Alles andere als neu ist die krimibelastete Dichotomie von Fahnder und Täter, alles andere als abgestanden ist, was Autoren wie Ulrich Noller/Jürgen Wiebicke, Cord Riechelmann oder Svenja Flaßpöhler daraus machen. Noller und Wiebicke argumentieren in ihrem Text „Ermitteln als Arbeit“: die fundamental gestörten Selbst- und Weltverhältnisse der Kommissare. Im Verständnis der Philosophen Hartmut Rosa und Byung-Chul Han drehen sich die Fahnder in einer sich dauernd aktualisierenden Ermüdungsschleife. Permanent auf Abruf sind sie, permanent im Einsatz, permanent auf Alarm und bewegen sich damit in enger Identität mit den Zeitgenossen. „Max, was tun wir hier eigentlich?“, fragt der Kölner Kommissar Freddy Schenk (Dietmar Bär) seinen Kollegen Max Ballauf (Klaus J. Behrendt). „Erschöpfung, Ermüdung und Erstickung“ (Han) ist allseitig. Auch hier gilt: Wir alle sind „Tatort“.

Auffällig, wie sehr sich zahlreiche Autoren und ihre angerufenen Geister auf den Frankfurter Kommissar Frank Steier stürzen, dargestellt von Joachim Król, wenig geliebt vom breiten Publikum und schon nach sechs Folgen aus dem Fernsehdienst verabschiedet. Steier ist diese philosophisch ergiebige Figur, die so gut das geschwächte Subjekt – auf Ermittler- wie auf Täterseite – imaginiert. Ist der Täter ohne Alibi, ohne Ausrede, sprich ohne hinreichendes Motiv am Morden, so arbeitet einer wie Steier (auch der Dortmunder Peter Faber oder der Stuttgarter Thorsten Lannert gehören dazu) in „einer ungeraden, unterbrochenen und absteigenden Linie an seinem Verschwinden als Mann und Kommissar“ (Cord Riechelmann). Ein langsames Verschwinden in den Metamorphosen des Alkohols, die Erschöpfung endet, wie der Philosoph Gilles Deleuze konstatiert, in einem Akt der Charismaerledigung. Mann hat fertig.

Schnitt, sensationeller Auftritt von Steiers Kollegin Conny Mey (Nina Kunzendorf) in Hosen und Stiefeln auf dem Catwalk der verklinkerten Flure der Frankfurter Behörde. Diese Frau, diese Kommissarin schafft sich Raum, während Steier in seinem Finale, der „Tatort“-Folge „Der Eskimo“, seinem Schrank immer mehr Platz verschafft. Der Schrankmann und die Flurfrau, das ist Zukunft. Und tatsächlich betrauerte Vergangenheit, denn sowohl Kunzendorf als auch Król haben sich vom „Tatort“ verabschiedet. „Vielleicht bildet das Team Frank Steier und Conny Mey (…) den Höhepunkt darin, die Zeit auf den Begriff gebracht zu haben – inkonsistente Geschichten zu erzählen, Linearität zu vermeiden, Abgründe nicht zu erklären, sondern bloß zu zeigen, Autoritäten zu dekonstruieren“, schreibt Armin Nassehi in seinem Beitrag „Ein Fall dauert 90 Minuten. Edmund Husserl und die Zeit des ,Tatorts'“.

Nicht einig sind sich die Autorinnen und Autoren, ob es in der Krimireihe zu viel oder zu wenig Sinn gibt, ob sich der Zuschauer den Kommissar, obzwar Sisyphos im Ermittlungsdienst, als unglücklichen oder doch als glücklichen Menschen vorstellen muss. Eines jedoch ist so augenfällig wie banal: Der Fahnder braucht niemanden so unbedingt wie den Täter. Mit seinem Verbrechen bis hin zum Mord schafft er die (berufliche) Existenzgrundlage dessen, der ihn jagen und - nach dem „Tatort“-Grundgesetz – zur Strecke bringen wird. Der Täter, seine Motive sind aller philosophischen Anstrengung wert. Svenja Flaßpöhler wägt in ihrer aufregenden Auseinandersetzung mit Hannah Arendts These von der „Banalität des Bösen“ die Frage, ob die krimi-eigene Personalisierung und Psychologisierung des Bösen in unserer Zeit nicht eine Leugnung der tatsächlichen, sprich systemischen und somit gesichtslosen Ursachen des Bösen bedeuten muss. Ist es nicht eine sagenhafte Beruhigung für den Zuschauer, dass die Tat einen Täter und der Täter ein Gesicht bekommt (wie ehedem der Holocaust mit Adolf Eichmann)? Von dem sich der Zuschauer abgrenzen kann, weil er damit der Herausforderung entgeht, ob das Böse nicht in den Strukturen lauert. „Ist der ,Tatort' Opium fürs Volk? Oder zumindest eine Beruhigungspille in Zeiten des Terrors, der so unsichtbar, so schwer fassbar ist wie das banale Böse selbst?“, fragt Flaßpöhler. Es geht noch deprimierender. Franz Kafka schon wusste: „Das Gute ist in gewissem Sinn trostlos.“

Und genau deshalb schalten des Sonntags zehn Millionen Deutsche das Erste ein. Weil strahlend blaue Augen den Zuschauer fixieren. Gefahr droht. Weiße Linien durchfahren und umfassen das linke Auge des Gesichtes – ein Mensch im Fadenkreuz. „Du sollst nicht töten.“ Was aber der Fall sein wird.

Wolfram Eilenberger (Hg.): Der Tatort und die Philosophie. Schlauer werden mit der beliebtesten Fernsehserie. Tropen Verlag, Stuttgart 2014.

220 Seiten, 17,95 €

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