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Ein Todesengel?  Felix Murot (Ulrich Tukur, rechts) und der verdächtige Apotheker Arthur Steinmetz (Jens Harzer).

© HR

ARD-Krimi mit Ulrich Tukur: Tatort Oberstübchen

Der Sonntags-"Tatort" in der ARD: wenig Realität, viel Kopf, viel Ulrich Tukur, sogar Moral. Und die Erkenntnis: Ein Kommissar Murot lässt sich nicht verführen.

1001, was für eine Zahl. Scheherazade, die Gattin des frauengestörten Sultans, musste ihr Leben durch spannende Geschichten retten. „Tatort“-Erzählern kann heute – dank rituell gesicherter Quote – niemand mehr mit Hinrichtung drohen. Der Publikumssultan muss nehmen, was da kommt. Oder wegpilchern.

Vergangenen Sonntag führte Ulrike Folkerts, die inzwischen wie durch ein Wunder von der Altlast zum gefeierten „Tatort“-Atlas aufgestiegene Kommissarin des „Tatorts“ aus Ludwigshafen, durch die ARD-Siegesfeier über das verwirrte Publikum. Es herrscht jetzt die herrlichste Narrenfreiheit der Macher. Alte „Tatort“-Regeln wie kein Privatleben der Ermittler, keine Rückblenden, hohes Gesellschaftsengagement sind „dekonstruiert“. Die Drehbücher schicken phantasieberauscht die Rüpel auf Streife, die Bindungsneurotiker in die Amtsstuben oder die Rechtsskeptiker zur Wiederherstellung der Gerechtigkeit.

Oder einfach zur Fahndung in ihren eigenen, den traumageschädigten Kopf. Borderline-Nähe bestimmt den Dienstgrad in dem „Tatort“-Segment „gestörtes Oberstübchen“. Das Selfie mit dem eigenen Wahn ist dort die einzig zählende Wirklichkeit fürs gestörte Kommissars-Ego. Die HR-Krimis mit Ulrich Tukur gehören zum Erlesensten in der Einen-Vogel-haben-Ornithologie des „Tatorts“. Tukur und sein Kollege Jörg Hartmann, der Dortmunder Ex-Amtsstubenzertrümmerer, werden für ihre Wahnsinnsdarstellungen gelobt und bepreist.

„Es lebe der Tod“ (Buch: Erol Yesilkaya, Regie: Sebastian Marka) beginnt nach den vorangegangenen Verstiegenheitsexzessen „Im Schmerz geboren“ und „Wer bin ich“ vergleichsweise bodenständig. Es sieht zu Anfang, vergisst man die ersten gewittrigen Rätselbilder, nach normaler Polizeiroutine aus. Kommissar Murot zeigt Journalisten Bilder einer mit durchschnittener Kehle in blutiger Badewanne liegenden Nackten, einen Fall, der zu einer ganzen, allerdings weniger brutal ausgeführten Mordserie gehören soll.

Er betreibt gepflegteste Euthanasie. Kostenlos

Hinterher gibt Murot geburtstagshalber Champagner in Pappbechern aus. Als dann aber die Torten der Kollegen mit der Aufschrift „Sieben Jahre bis zur Rente“ anrücken, nimmt das Geburtstagskind Reißaus, da mag seine von Barbara Philipp gespielte Assistentin Wächter noch so fürs Bleiben barmen. Doch aus Murots heimischem Feierabend wird nichts. Er wäre, wie später zu sehen ist, ohnehin nichts anderes als eine Hölle aus Alkohol und unterdrückten Suizidabsichten, auch nachdem Murots Tumor namens Lilly wegoperiert ist.

Die hier nicht zu verratende Handlung führt Murot sogleich durch hermetisch verschlossene Räume – durch Starkregenfluten, in eine trostlose Gefängniskapelle und in ein verfallenes Pflegeheim, schließlich zum schlimmsten aller Unorte: dem Trauma in seinem Kopf. Bei Murot meldet sich der Urheber der Mordtaten, als dessen Identität sich der Brotberuf eines Apothekers herausstellt und als dessen wahnsinnige Berufung die zu einem Todesengel. Er betreibt gepflegteste Euthanasie. Kostenlos. Er weiß aus den Rezepten, wer nie mehr ein schmerzfreies Restleben erwarten darf und verabreicht den nichtsahnenden Moribunden ein würdiges Lebensende, das aussieht wie ein Selbstmord.

Er heißt, wie sich herausstellt, Steinmetz. Er leidet wie einst Murot an einem Tumor im Kopf. Die Traumaschädigungen in der Kindheit sind für beide ähnlich: eine heimlich und aus kindlicher Angst durch Gerätesabotage herbeigeführte Tötung der schwerkranken Großmutter (Steinmetz), der Anblick des am Baum erhängten Pfarrersvaters (Murot).

Ist der Todesapotheker ein richtiger Mensch oder eine Kopfgeburt Murots? Die Krimidramaturgie zwingt Murot und den sich über alle Risiken und Nebenwirkungen erhebenden Apotheker des vorzeitigen Todes (Jens Harzer) in Dialogszenen. Da entspinnt sich ein wunderbares Theater der Seelenspiegelungen. Harzer spielt seine Todesverliebtheit mit verführerischer Stimme und melancholischer Eleganz. Komm, süßer Tod.

Aber Murot lässt sich von den asozialen Sirenenklängen eines schmerzfreien Endes nicht verführen. Sterben ja, aber nicht in narzisstischer Selbstermächtigung, nicht als bequeme Abkürzung. Höchstens um einen Menschen, es ist Wächters Tochter, zu retten. Es lebe der Tod, aber die Moral ist wichtiger als die Sehnsucht nach ihm.

Mitten im grenzenlosen Oberstübchen-Theater erhebt der alte, ethikverpflichtete „Tatort“ sein graues Haupt. Moral ist das ästhetisch verpönte, aber doch wichtigste Geheimnis der Krimireihe, die keine Grenzen mehr will und doch an der Grenze zwischen Gut und Böse nicht vorbeikommt. Scheherazade wusste das.

„Tatort - Es lebe der Tod“, ARD, Sonntag, 20 Uhr 15

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