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Zum Tod von Marcel Reich-Ranicki: Die Literatur war seine Heimat

Marcel Reich-Ranicki, ein Mann, der die deutsche Literaturlandschaft prägte wie kein anderer. Ein Nachruf auf den großen Literaturkritiker.

Was Marcel Reich-Ranicki an diesem 27. Januar 2012 kurz vor seiner Rede zum Gedenken der Opfer des Nationalsozialismus durch den Kopf gegangen sein mag? Er sitzt vor dem Deutschen Bundestag und die versammelte deutsche Politik wartet darauf, dass er zu sprechen anhebt. Reich-Ranicki aber schaut ins Auditorium und lässt sich Zeit. Er schaut rechts, schaut links, fast eine Minute verstreicht. Und dann beginnt er nach der obligaten, sehr langen Anrede zu erklären, dass er nicht als Historiker sprechen werde, sondern als Zeitzeuge, „genauer als Überlebender des Warschauer Ghettos.“ Ob er in dieser stillen Minute sein Leben hat Revue passieren lassen? Ob er darüber nachgedacht hat, dass er hier jetzt vor den Kindern und Enkeln der Deutschen spricht, die ihm in den dreißiger und vierziger Jahren intensiv nach dem Leben getrachtet haben?

Man sah und hörte ihm an diesem Tag seine 91 Jahre deutlich an, und dennoch war in seinem Vortrag eine Kraft, die hinterher alle verstummen ließ. Fünf Jahre zuvor, an einem für ihn nicht weniger historischen Tag im Februar 2007, als er die Ehrendoktorwürde der Berliner Humboldt-Universität erhielt, hatte er noch eine andere Tonart angeschlagen. Bei aller Genugtuung über die Gerechtigkeit, die ihm so spät widerfahren sollte, schließlich war ihm 1938 von der HU ein Studienplatz für Literatur verweigert worden, gab er sich Mühe, diesen zwei Feierstunden ihr Pathos zu nehmen. Er plauderte aus seinem Leben, riss Witzchen und verwies auf seine nach wie vor regen literaturkritischen Aktivitäten. Er erklärte, dass er keine andere Chance hatte, als „an das Primat Kunst vor Leben“ zu glauben - und demonstrierte einmal mehr, wie groß auch sein Gespür für gehobenes Entertainment war. Denn Marcel Reich-Ranicki ist gerade in seinen späten Jahren als Fernsehliteraturkritiker, als Erfinder und Moderator des 1988 erstmals im ZDF gesendeten Literarischen Quartetts, selbst ein Star gewesen, ein Popstar der Literaturkritik. Hinzu kam nach der Veröffentlichung seiner Autobiografie „Mein Leben“ Ende der neunziger Jahre, dass sich sein Leben als ein für das 20. Jahrhundert genauso exemplarisches wie einzigartig-unwahrscheinliches herausstellte: schwer gefährdet in dessen ersten Drittel, bestimmt von einem ständigen Hin-und Hergerissen-Werden bis in die späten fünfziger Jahre hinein.

Geboren wird er 1920 im polnischen Wloclawek als Sohn des jüdischen Kaufmanns David Reich und dessen kunstsinniger, aber weltfremder Ehefrau Helene. Da der Vater 1929 Bankrott macht, siedelt man nach Deutschland über, nach Berlin, wo ein großer Teil der Familie der Mutter lebt. 1938 macht Reich-Ranicki in Berlin noch Abitur, versucht auf Drängen seiner Mutter sich an der damaligen Friedrich-Wilhelm-Universität, der heutigen HU einzuschreiben, bevor er und seine Familie nach Polen deportiert werden, ins Warschauer Ghetto. Es folgen die Flucht aus dem Ghetto, das Überleben im Keller des Hauses einer polnischen Familie; dann nach Kriegsende die Tätigkeit beim polnischen Geheimdienst in Berlin und London, schließlich die Rückkehr nach Polen, wo er aus der KP ausgeschlossen wird.

Er beginnt, sich wieder mit der deutschen Literatur zu beschäftigen. 1958 gelangt Reich-Ranicki in die Bundesrepublik, wo er durch seine Tätigkeit für die „Zeit“ und die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ zum mächtigsten Literaturkritiker der Bundesrepublik wird. Er ist da schon 38 Jahre alt und hat sich während der Zeit im Getto und auch als Geheimdienstler überhaupt nicht mit deutscher Literatur beschäftigt. Aber über die Zeit davor sagt er: „Ich fuhr so hin und her, freiwillig und nicht freiwillig, aber Heine und Thomas Mann kamen immer mit.“

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Zu seiner ultimativen Machtfülle gelangt Reich-Ranicki allerdings erst, als er nach fünfzehn Jahren als Leiter des Literaturessorts der „FAZ“ 1988 seinen Posten räumt und das Literarische Quartett aus der Taufe hebt. Mit seinen ständigen Quartettskollegen Hellmuth Karasek, Sigrid Löffler und einem wechselnden Gast macht er selbst hochliterarische Bücher zu Millionensellern.

Hier, im mündlichen Diskurs und vor Fernsehkameras, treibt er seine Art von Literaturkritik zur Perfektion, eine Literaturkritik der klaren Entscheidungen: Das Buch ist gut, das Buch ist schlecht, Daumen rauf, Daumen runter, das Buch ist glänzend geschrieben, das Buch ist langweilig, all das begleitet von schmetternden Jas oder krachenden Neins.

Marcel Reich-Ranicki lehnte es ab, die Kritik selbst als literarische Leistung zu verstehen

Für Reich-Ranicki war es oberstes Gebot, an das Publikum zu denken. Von Kerr und Polgar, von Jacobsohn und Tucholsky hatte er gelernt, von den „wunderbaren Kritikern der deutschen Romantik“, von Lessing und Schlegel, und wie diese hatte er nur einen „Adressaten im Auge: das Publikum“. Nie die eigene Zunft, wie er zusätzlich betonte.

Er lehnte es ab, die Kritik selbst als literarische Leistung zu verstehen, für ihn stand der Gegenstand der Betrachtung im Mittelpunkt. Die Kritik, formulierte er in einem Gespräch mit seinem eher abwägenden, auch die künstlerischen Momente einer Kritik betonenden Kollegen und Kontrahenten Joachim Kaiser „hat zu dienen, der Literatur, der Musik, dem Theater und wohl auch in gewissem Sinne den Lesern der Zeitung“. Dass der Kritiker sich wichtiger als der Buchautor nehmen konnte, war für Reich-Ranicki nur billig. So schrieb er 1961 in einem Aufsatz über Wolfgang Koppen: „Die Kritik wirkt, wenn sie redet, und sie wirkt, wenn sie schweigt. Sie belehrt und erzieht, verführt und demoralisiert den Schriftsteller auch dann, wenn sie sich nur an das Publikum wendet oder wenn er entschlossen ist, sich ihrem Einfluss zu entziehen.“

Das sorgte für Widerrede. Peter Handke höhnte 1968 in einem Aufsatz über Reich-Ranickis Vorliebe für das realistische, natürliche, lebensnahe Erzählen: „Daß auch die realistische Methode nicht Natur, sondern gemachtes Modell ist, daß sie am Beginn ihrer Verwendung gekünstelt und gebastelt gewirkt hat und nur durch den Gebrauch und die Gewöhnung natürlich erscheint, will er nicht merken.“

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Und in der Tat: Reich-Ranickis Leidenschaft galt dem klassisch, realistisch Erzählten, den Gesellschaftsromanen des 19. Jahrhunderts, den großen amerikanischen Romanen des 20. Jahrhunderts. Wenig Verständnis hatte er für das Rätselhafte, mit der Sprache jonglierende, für das postmoderne Erzählen, für die Protagonisten des nouveau roman etwa, Claude Simon oder Alain Robbe-Grillet.

Seine Art von Kritik spitzte zu, verzichtete auf Zwischentöne, duldete kaum einen Widerspruch. Und das verschärfte sich noch mit dem großen Erfolg des Literarischen Quartetts: Der Kritiker war jetzt größer und wichtiger als die Kritik und die Bücher selbst, er selbst war die Literatur und die Literaturkritik in Peronalunion. Und dazu noch omnipräsent: Reich-Ranicki war plötzlich auch eine Person des Boulevards geworden. Der Kritiker war jetzt größer und wichtiger als die Kritik und die Bücher selbst, er selbst war die Literatur und die Literaturkritik in Personalunion. Und dann wechselte Reich-Ranicki mit „Mein Leben" auch noch die Seiten. Er verkaufte jetzt mehr Bücher als Grass oder Walser mit ihren Romanen (anderthalb Millionen Exemplare!), er erntete dazu auch viel Lob für seinen erzählerischen Stil.

Bücher hatte er zwar vorher schon geschrieben und veröffentlicht, Rezensions- und Essaysammlungen, Artikelzusammenstellungen, mit denen er die Geschichte der Manns nachzeichnete, oder über Grass. Jetzt aber taugte jedes Interview, jede Glosse, jede Rezension für neue Bücher - und plötzlich fühlte auch er sich von der Kritik unzureichend gewürdigt. Auf der Frankfurter Buchmesse 2006, nach der Premiere eines Filmporträts über ihn, beklagte er sich, dass seine jüngsten Arbeiten, sein Kanon, seine Autobiografie „Mein Leben“ und die von ihm in der „FAZ“ betreute „Frankfurter Anthologie" nicht in dem Film vorgekommen wären. Und in den vielen Interviews, die er 2006 zum Abschluss des von ihm herausgegebenen Kanons gab, konnte man immer wieder heraushören, wie sehr ihn die spärliche Resonanz der Kritik darauf wurmte: „Das war mein ganzes Leben so. Man arbeitet lange an bestimmten Sachen und glaubt etwas Tolles getan zu haben, und dann erscheint das Werk und die Kritik schweigt. Dann sagt sie zwar was, am Ende aber nicht viel, und dann ist man enttäuscht."

Auch als alter Mann sah Marcel reich-Ranicki das Ghetto noch im Spiegel, zweimal täglich.

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Wie sehr ihm der Kanon am Herzen lag, wie hoch er ihn einschätzte, das konnte man nicht zuletzt bei ihm zuhause in der Gustav-Freytag-Straße in Frankfurt sehen, in seinem Wohnzimmer, mit einem Blick auf die Bücherregale. Zwischen den gesammelten Werken von Thomas und Heinrich Mann, von Musil und Kafka standen, an verschiedenen Stellen platziert, die Ausgaben seines Kanons mit den Romanen, Gedichten, Erzählungen, Dramen und Essays. Das aber so, dass nicht die Titel und Cover der von Reich-Ranicki ausgewählten Bücher zu sehen waren, sondern die Rückseite der Buchkassetten mit dem nicht kleinen Marcel-Reich-Ranicki-Porträt.

Aber vor diese Leistungen für die Literatur schob sich seine zuvor auch von ihm selbst wenig beachtete Geschichte als Holocaust-Überlebender, als Mensch, der sich bis ins hohe Alter zweimal täglich rasierte. Ungepflegt aussehende Juden, so Reich-Ranicki einmal, liefen im Warschauer Ghetto größere Gefahr, ins Lager gebracht zu werden. Diese Gewohnheit, fügte er dann an, habe er beibehalten. Auch als alter Mann sah ihn das Ghetto im Spiegel an, zweimal täglich.

„Mein Leben“ vermittelte einem großes Publikum einen Begriff davon, was es hieß, einerseits der oberste Repräsentant der deutschen Literatur zu sein, „die Verkörperung der deutschen Kulturnation“ zu sein, wie der einstige Bundespräsident Horst Köhler sagte. Andererseits sich lange Zeit als Außenseiter fühlen zu müssen, nirgendwo richtig dazuzugehören, aber immer diese Sehnsucht nach wirklicher Zugehörigkeit zu spüren. Seine ultimative, wenn auch virtuelle Heimat wurde so die Literatur, sie wurde sein „portatives Vaterland“. Deutlich wurde ihm das kurz nach dem zweiten Weltkrieg. Als polnischer Geheimdienstler war er für drei Monate nach Berlin zurückgekehrt. Er kannte niemanden mehr in der Stadt seiner Jugend. „So war es eine traurige und einsame Zeit, erschreckend, doch bisweilen auch beglückend. Sie machte mir meine Heimatlosigkeit bewußt. Denn daß Polen mir fremd geblieben war, das spürte und erkannte ich nirgends so deutlich wie gerade in Berlin.“

Die unbedingte Leidenschaft für die Literatur aber, für die kritische Auseinandersetzung mit ihr, führte dazu, dass Reich-Ranicki keine freundschaftlichen kollegialen Bindungen kannte. Legendär der Streit mit Günter Grass, dessen Roman „Ein weites Feld“ er auf dem Cover des „Spiegel“ großformatig zerriss; mit Martin Walser natürlich, den er nur als Essayisten schätzte, nicht als Romancier; mit Max Frisch, der ihn nach einem Verriss in kleiner Runde bei Siegfried Unseld mit „Halt’s Maul, du Arschloch“ den Mund verbieten wollte. Oder auch mit der Kritikerin Sigrid Löffler, die er 2000 in einem Streit um einen Haruki-Murakami-Roman im Literarischen Quartett zum Weinen brachte. Sie schied daraufhin aus.

Für ihn stand noch hinter jedem seiner Verrisse nichts anderes als „eine entschiedene, vielleicht sogar leidenschaftliche Bejahung“ - was sich dann selbst auf das Fernsehen bezog: 2008 lehnte er den Deutschen Fernsehpreis öffentlich ab mit der Begründung, bei der Verleihung einfach zu viel „Blödsinn“ gesehen zu haben.

Keiner prägte die deutsche Literaturlandschaft so, wie der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki.
Keiner prägte die deutsche Literaturlandschaft so, wie der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki.

© dpa

Aber es gehörte für ihn genauso dazu, seinen vermeintlichen Feinden die Hand zu reichen und Frieden zu schließen. Wie zum Beispiel mit Martin Walser, der 2002 mit „Tod eines Kritikers“ ein Buch verfasste, dass er als „antisemitischen Roman über mich“ auffasste. Bis zu seinem Tod am Mittwoch im Alter von 93 Jahren ist Marcel Reich-Ranicki sich treu geblieben: immer der Sache verpflichtet, nicht nachtragend, ohne Hass. Und nach dem Unheil in den dreißiger Jahren dankbar für ein langes, ausgefülltes Leben - und vor allem dafür, sein Heimatland doch gefunden zu haben und überall mit sich führen zu können: die Literatur.

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