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Die Gläser, durch die er die Welt sah. Hesses Brille in dem ihm gewidmeten Museum in Gaienhofen am Bodensee, wo er zwischen 1902 und 1912 lebte.

© SWR/Schmidt & Paetzel Fernsehfilme

Zum 50. Todestag: Hermann Hesse: Spielregeln des Geistes

Hermann Hesse kennt jeder aus der Schulzeit: Als Romancier, als Steppenwolf, als Glasperlenspieler, als Indienapostel. Zu entdecken ist jetzt der produktivste Briefeschreiber des 20. Jahrhunderts. Zum 50. Todestag des Schriftstellers.

Von Gregor Dotzauer

Der Duft von Patchouli und Sandelholz, der seine Romane in den siebziger Jahren umwehte, ist verflogen. Doch die Aversionen gegen das Parfüm, das sie von sich aus verströmen, sind so lebendig wie eh und je. Hermann Hesse ist vielen Lesern im besten Fall gleichgültig, wenn nicht ein Gegenstand hartnäckiger Verachtung – bis hin zu intellektuellen Mordgelüsten. Erfahrungsgemäß kommen nur auf jeden, dem er schon immer suspekt war, mindestens zwei, die ihn einmal angebetet haben. Auch 50 Jahre nach seinem Tod im tessinischen Montagnola gibt es keinen Schriftsteller, der mehr Renegaten hervorbringt als er. Frei nach einer alten Revoluzzerweisheit: Wer Hesse mit 16 nicht liebt, hat keine Seele. Wer ihn mit 40 noch liest, hat keinen Geschmack.

Was aber ist es, das in einem bestimmten Lebensabschnitt richtig ist und sich später als schief und verblendet erweist? „Wenn wir einen Menschen hassen, so hassen wir in seinem Bild etwas, was in uns selber sitzt. Was nicht in uns selber ist, das regt uns nicht auf“, schrieb Hesse 1919 in seinem anfangs unter dem Pseudonym Emil Sinclair veröffentlichten Roman „Demian“. Es ist eine jener zahllosen Sentenzen, die Eingang in all die Kalender und Aphorismenbändchen gefunden haben, die zurecht seinen Nachruhm als Menschenkenner befördert haben – es einem aber auch ersparen, sich in den träge wabernden Weiten seiner erzählenden Prosa zu verlieren.

In der Tat ist es schwierig, ja fast unmöglich, Hesse ein Leben lang treu zu bleiben. Es wäre existenziell fatal, in jenem Moment einer bis ans Psychotische grenzenden Weltverzweiflung zu verharren, den er auf die eine oder andere Weise immer wieder gestaltete: als Auflehnung gegen ein autoritäres Schulsystem in „Unterm Rad“ (1906). Als Inspektion einer pubertären Einsamkeit im „Demian“. Als Ringen des Künstlers um seine Berufung in „Klingsors letzter Sommer“ (1920). Oder als Rütteln an den Gitterstäben eines bürgerlichen Biedersinns im „Steppenwolf“ (1927), das sein Held Harry Haller noch im Alter von 50 Jahren vollzieht. Man tut das einmal und – mit mehr Glück als Hesse, der sich im Dauerkonflikt verzehrte – nie wieder.

Hesses Romane verlangen nach einer identifikatorischen Lektüre und halten erst in einem zweiten Schritt distanzierteren Erkenntnisbedürfnissen stand. Deshalb haben Gymnasiasten ihr literarisches Initiationserlebnis auch eher mit Hesse als mit dem im Prinzip nicht weniger aufwühlenden Benn – unabhängig von stilistischen Fragen.

Es brauchte nicht die historische Probe aufs Exempel, um zu zeigen, dass Kafkas Schlackenlosigkeit haltbarer ist, Benns Bewusstseins- und Körpermusik moderner und Thomas Manns Ironiegirlandentum virtuoser. Es genügt, dass Hesse eine Verlässlichkeit humanistisch tiefen und ernsthaften Empfindens ausstrahlt, an die er zwar sprachlich oft nicht heranreicht, die ihn aber nicht zuletzt durch den umfassenden Grad seiner Bildung bis heute von einem spirituellen Aushilfskaplan wie Paulo Coelho unterscheidet.

Hesse bekannte sich zu Novalis und Jean Paul, und obwohl ihm im Vergleich zu Ersterem das philosophische Genie und zu Letzterem die wortspielerische Fantasie fehlen, ist das, was ihn von seinen Zeitgenossen trennt, vor allem der unverbrüchliche Glaube an die innere Stimme des Menschen, den inneren Kompass, das Vermögen, zum eigenen Wesenskern Zugang zu finden.

Wiewohl durch die reinigenden Feuer der Psychoanalyse gegangen, hielt er an der notwendigen Fiktion eines steuernden Innen fest, während Kunst und Wissenschaft den Menschen immer mehr in ein Außen der kulturellen Prägung, der evolutionären Prozesse, des genetischen Schicksals stellen. Genau dies muss eine Generation faszinieren, die ihre Adoleszenzkrisen mangels elterlicher Widerstände gar nicht mehr ausleben kann, die scheinbar beliebige Wahl zwischen tausend weltanschaulichen Alternativen hat – und weniger denn je weiß, wohin. Das Bändchen „Hermann Hesse antwortet... auf Facebook“ oder die Hesse-App im iTunes-Store biedern sich in diesem Sinn dem Publikum keineswegs an.

Von daher gibt es auch keine überfällige Revision oder Dekonstruktion eines Werks, die nicht schon zu Hesses Lebzeiten stattgefunden hätte. Nichts von dem vernichtenden Sentimentalitätsurteil, das etwa Karlheinz Deschner 1957 in „Kitsch, Konvention und Kunst“ über „Narziss und Goldmund“ fällte, ist korrekturbedürftig. Man hätte dem Delinquenten nur einen weniger selbstgerecht auftrumpfenden Richter gegönnt. Heute würde man wahrscheinlich auch genauer zwischen dem Neoromantiker der frühen Jahre, dem zur Neuen Sachlichkeit tendierenden Autor des „Steppenwolfs“ und dem Klassizisten des „Glasperlenspiels“ (1943) unterscheiden.

Es vervollständigt sich allerdings ein Bild, das gegenüber dem Erzähler (und dem zwischen schöner Schlichtheit und grauenhafter Rührseligkeit nicht minder pendelnden Dichter) den Briefeschreiber in den Vordergrund rückt. Kein Schriftsteller des 20. Jahrhunderts war auf diesem Gebiet ähnlich produktiv – nicht einmal der obsessiv seine Netze spinnende Stefan Zweig, mit dem er von frühester Jugend an korrespondierte. Keiner richtete seine Worte überdies so persönlich an den Adressaten.

Hesse schrieb in erster Linie für sein jeweiliges Gegenüber, nicht für die Nachwelt. Und wenn er auch immer wieder Werk und Zeit kommentiert, so lag ihm doch am freundschaftlichen Austausch, nicht an einem narzisstischen Gedankenlabor. Psychologisch könnte man höchstens vermuten, dass Hesse seine depressiven und misanthropischen Züge, die auch seine drei Ehefrauen zu spüren bekamen, in der Distanzkommunikation zu überwinden trachtete.

Rebellion gegen das pietistische Elternhaus

Seit vielen Jahren erscheinen Einzelausgaben bedeutender Korrespondenzen, darunter zuletzt der Briefwechsel „Von Poesie und Politik“, den er zwischen 1907 und 1922 mit dem linksliberalen Reichstagsabgeordneten Conrad Haußmann führte, und der Briefwechsel mit dem Bildhauer Hermann Hubacher. Nach den erst vor sieben Jahren abgeschlossenen „Sämtlichen Werke“ in 20 Bänden beginnt nun aber eine von Volker Michels herausgegebene, auf zehn Bände angelegte systematische Edition der „Briefe“.

Auch sie wird nicht den ganzen Kontinent sichtbar machen können, den er sich, oft unter der Last der Aufgabe ächzend, in einem Drittel seiner Arbeitszeit erschrieb. (Der Rest gehörte zu gleichen Teilen dem Literaten und dem Maler.) Mit 40 000 an Hesse gerichteten Briefen und 18 000 erhaltenen Antworten liegt nach Suchanzeigen in der Presse in den Marbacher und Berner Archiven mittlerweile ein Mehrfaches dessen vor, was noch für die vierbändige Briefausgabe von 1986 zur Verfügung stand. Insbesondere die Kriegsverluste lassen sich aber wohl nicht mehr ausgleichen.

Die Edition wird keinen unvertrauten Hesse zutage fördern, aber sicher unbekanntes Material für die Hesse-Almanache: Die Briefe waren dafür, wie Volker Michels in seinem Vorwort erklärt, in den letzten Jahren öfter der Steinbruch als das Werk.

Band eins umfasst die Jahre 1881 bis 1904. Er setzt ein mit dem Brief, den der bald Vierjährige in Basel seiner Mutter diktiert und reicht bis in die Zeit der ersten Ehe mit der neun Jahre älteren Maria Bernoulli. Vieles davon war schon in der von seiner dritten Frau Ninon Hesse herausgegebenen Sammlung „Kindheit und Jugend vor 1900“ zu lesen, aber um so viele Zeugnisse erweitert und mustergültig kommentiert, konnte man die Herausbildung von Hesses Persönlichkeit noch nicht verfolgen.

Die todessehnsüchtige Rebellion gegen das pietistische Elternhaus und das Aufbegehren gegen die Eingliederung ins Theologische Seminar des Klosters Maulbronn – hier ist es ein mitreißender Pubertätskrimi, der in allen Tonlagen zwischen Flehen, Schimpfen und sarkastischer Unterwürfigkeit versucht, die Gottesvergiftung loszuwerden, die Hesse sich zugezogen hatte. „Da hält man mir Reden“, schreibt der 15-Jährige aus der Heil- und Pflegeanstalt Stetten an seinen Vater, den Missionar Johannes Hesse: „,Wende dich an Gott, an Christus, etc, etc!’ Ich kann eben in diesem Gott nichts als einen Menschen sehen, mögt Ihr mir hundertmal fluchen.“ Es unterzeichnet der „Exsulant“, also der aus Maulbronn Verbannte, der bittere Klage führt, dass er sich Pfarrer Schall, dem Inspektor der Anstalt zufolge, ja nicht „Nihilist“ nennen dürfe.

Schon vor dem Tod des Vaters 1916 war er auf dem Weg, sich mit denen auszusöhnen, die ihn in diese Verzweiflung getrieben hatten. Die innere Spannung, von den religiösen Trümmern am Wegesrand hin zu einer ihm gemäßeren Spiritualität zu finden, verließ ihn aber nicht mehr. Der indische Buddhismus, dem er in „Siddharta“ (1922) huldigte, nachdem er zehn Jahre zuvor als Reisender durch Sri Lanka, Birma und Sumatra mit Asien wenig romantische Erfahrungen gemacht hatte, der chinesische Daoismus, mit dem er sich beschäftigte – es waren alles Reparaturarbeiten an einer monotheistisch beschädigten Seele.

Pietistische Wurzeln, buddhistische Triebe. Hermann Hesse, am 2. Juli 1877 im württembergischen Calw geboren, starb am 9. Juli 1962 als Schweizer Staatsbürger in Montagnola.
Pietistische Wurzeln, buddhistische Triebe. Hermann Hesse, am 2. Juli 1877 im württembergischen Calw geboren, starb am 9. Juli 1962 als Schweizer Staatsbürger in Montagnola.

© dpa

Zerrissen blieb er auch, was die Vereinbarkeit von geistigem und politischem Leben betrifft. Im Mai 1948, zum Zeitpunkt der Gründung Israels, bat ihn Max Brod, die in Jerusalem und Tel Aviv aufbewahrten Handschriften bedeutender Schriftsteller – darunter die seines Freundes Franz Kafka, über den Hesse sich 1935 enthusiastisch geäußert hatte – durch einen öffentlichen Aufruf vor möglicher Zerstörung zu schützen. Hesse entzog sich mit dem Hinweis auf seinen „vollkommenen Unglauben an den Zusammenschluss der ,Geistigen’ oder gar an den guten Willen der ,zivilisierten Welt’“. Er halte „jede ,geistige’ Scheinaktion, jedes Mahnen, Bitten, Predigen oder gar Drohen der Intellektuellen den Herren der Erde gegenüber für falsch, für eine weitere Schädigung und Herabwürdigung des Geistes“.

„Unsre Spielregeln“, nimmt er für alle Dichter und Denker in Anspruch, „sind mehr als Spielregeln, sie sind wirkliche Gebote, wirkliche Gesetze, ewige, göttliche. Ihrer Wahrung gilt unser Dienst, und wir gefährden ihn mit jedem Kompromiss, mit jedem Eingehen auf jene ,Spielregeln', sei es auch mit den edelsten Absichten.“ Daraus spricht sowohl der Autor des „Glasperlenspiels“, der im Namen einer idealen Republik des Geistes den Literaturkritiker Plinius Ziegenhals gegen das „feuilletonistische Zeitalter“ wettern lässt, als auch der erklärte Pazifist Hesse.

Nach einem Flirt mit den vermeintlich bewusstseinserweiternden Kräften des Ersten Weltkriegs wurde er ein entschiedener Gegner militärischer Gewalt – mit allem Drang, dies öffentlich kundzutun. Im Vergleich zu Thomas Mann, mit dem er auch zum Thema Politisierung einen 40 Jahre währenden Briefwechsel führte, war er, oft zu seinem eigenen Leidwesen, der Prononciertere. Man könnte beschließen, auch diesen inspirierenderen Hesse nicht mehr zu lesen. Los würde man den anderen auch dadurch noch lange nicht.

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