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Benjamin Britten bei der Arbeit am Schreibtisch

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Zum 100. Geburtstag von Benjamin Britten: Die Herzen der Menschen erreichen

Er war einer der wichtigsten Komponisten des 20. Jahrhunderts: Benjamin Britten hat Musik geschrieben, die den Hörer direkt berührt. Eine Würdigung zu seinem 100. Geburtstag.

Im Juni haben sie beim Albeburgh-Festival „Peter Grimes“ unter freiem Himmel aufgeführt. Genau dort, wo die bekannteste Oper von Benjamin Britten spielt, am Nordseestrand, in ostenglischen Suffolk. Das 1945 komponierte Musikdrama erzählt von einem eigenbrötlerischen, starrköpfigen Fischer, der den Tod seines Lehrjungen verschuldet und daraufhin durch die Dorfgemeinschaft in den Selbstmord getrieben wird. Das Wetter zeigte sich bei dieser Open-Air-Produktion genau so, wie man es im englischen Sommer erwarten würde, kalt, regnerisch, windig. „Sie kämpften gegen die Elemente und gewannen“, schrieb die „Times“ in der Premierenkritik.

Ein zweifelhafter Erfolg. Denn wenn Brittens Musik etwas nicht braucht, dann die Aufführung am Originalschauplatz. Weil kaum ein Opernkomponist so suggestive Klanggemälde zu schreiben vermochte wie der heute vor 100 Jahren geborene Brite. Die „Sea Interludes“, die zwischen den Akten von „Peter Grimes“ stehen, werden häufig im Konzertsaal aufgeführt – als Kino-im-Kopf-Stücke, bei denen die beschriebenen Landschaften sofort vor dem inneren Auge der Hörer auftauchen. Ja, man meint förmlich den salzigen Luftzug zu spüren, den feinen Gischtnebel, der vom aufgewühlten Meer herüberweht.

Genauso treffend, wie Benjamin Britten das Setting seiner Opern in Töne fasst, vermag er auch die Gefühle der Charaktere zu beschreiben. Diese Fähigkeit, den Figuren bis tief in die Seele zu schauen, macht ihn zu einem legitimen Nachfolger Giuseppe Verdis. Ja, abgesehen von seinem Geistesbruder Dmitri Schostakowitsch gibt es unter den im 20. Jahrhundert geborenen Komponisten keinen Musikdramatiker von gleichrangiger theaterpraktischer Begabung. Als Mann der Bühne hat Britten das Prinzip der traditionellen Tonalität nie ganz aufgegeben, sondern lediglich die Entwicklungen der Avantgarde mit offenem Ohr verfolgt und einzelne Aspekte für sich genutzt, zur Intensivierung des dramatischen Geschehens, wie die Zwölftontechnik in der Psychothriller-Oper „The Turn of the Screw“. Eine Erzählung von Henry James diente als Inspirationsquelle, die Mode der direkten Literaturvertonung hat der instinktsichere Komponist stets abgelehnt. Er wollte eigens für ihn angefertigte Libretti, Textbücher, deren Form sich seinen musikalischen Ideen anpassen – nicht umgekehrt. Lediglich beim „Sommernachtstraum“ hat er sich einmal eine Ausnahme gestattet.

In den ersten Nachkriegsjahrzehnten, als die Dogmatiker der Darmstädter Schule ästhetisch das Sagen hatten, wurde Britten als altmodisch geschmäht, gar als Staatskünstler, nachdem er 1953 zur Thronbesteigung von Elisabeth II. die Oper „Gloriana“ geliefert hatte. Sänger und Dirigenten dagegen wussten seine Musik stets zu schätzen: weil sie aufführungspraktisch gedacht ist, direkt von Mensch zu Mensch sprechen will.

Britten ist ein genuiner Melodiker, er scheut das Pathos nicht, vermag packende Massenszenen zu schreiben, hat einen feinen Humor. Seine Helden sind fast durchweg Außenseiter, Randfiguren der Gesellschaft, Unangepasste oder gar Geächtete. Ihre Gefühle, ihre Nöte und Ängste sind dem Komponisten vertraut. „Ben hatte es schwer, mit der Welt fertigzuwerden, zeigte das aber beileibe niemandem“, beschreibt Dietrich Fischer- Dieskau den Gentleman-Komponisten mit dem schwierigen Charakter. „Umso häufiger herrscht in seiner Musik das Dunkel vor. Sie spricht von den verschatteten Seiten des Lebens.“

Benjamin Brittens Talent wird früh entdeckt.

Männerbund. Benjamin Britten (r.) mit seinem Lebensgefährten Peter Pears.
Männerbund. Benjamin Britten (r.) mit seinem Lebensgefährten Peter Pears.

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Geboren am Tag der Heiligen Cäcilia, der Patronin der Kirchmusik, kommt Benjamin Britten als viertes Kind eines Zahnarztes im Küstenort Lowestoft zur Welt. Früh wird sein Talent entdeckt, mit 14 beginnt er – jeweils in den Ferien – den Kompositionsunterricht bei Frank Bridge. Ein Hochbegabtenstipendium bringt ihn von 1930–33 ans Londoner Royal College of Music. Seinen Lebensunterhalt verdient sich der Absolvent zunächst in den neuen Medien, vertont Hörspiele, schreibt als Angestellter des „General Post Office“ Soundtracks für Werbe- und Dokumentarfilme. Brittens Sinn fürs unmittelbar Zugängliche, für Musik, die beim Adressaten ankommt, wird durch diese Gelegenheitsarbeiten noch geschärft.

1939 flieht der bekennende Pazifist in die USA, kehrt jedoch schon im Frühjahr 1942, heimwehkrank, zurück. Er verweigert den Kriegsdienst, kann aber als hervorragender Pianist, der er ist, einer Internierung entgehen, indem er sich zur Truppenunterhaltung verpflichten lässt. Mit „Peter Grimes“ kommt gleich nach Kriegsende der internationale Durchbruch, ab 1947 tourt Britten mit seiner English Opera Group durch ganz Europa, fast zeitgleich ruft er ein Festival ins Leben, in Aldeburgh, einem Dorf in unmittelbarer Nähe seines Geburtsortes, wo er sich bis zu seinem Tod 1976 zu Hause fühlen wird. Zusammen mit der Liebe seines Lebens, dem Tenor Peter Pears. In Großbritannien, wo Homosexualität noch bis 1967 einen Straftatbestand darstellt, haben es schwule Paare schwer. In Brittens Falls ist es ausgerechnet die Queen, die ein deutliches Zeichen setzt, als der Komponist explizit in Begleitung seines Partners zu einem offiziellen Termin eingeladen wird.

Unter den 95 Opuszahlen des Britten’schen Werkverzeichnisses finden sich 16 Musiktheaterwerke, vom 1940 komponierten Bühnendebüt „Paul Bunyan“ über „Billy Budd“, die erste ausschließlich mit Männerstimmen besetzte Oper, die zudem komplett auf hoher See spielt, bis hin zum vermächtnishaften „Death in Venice“ nach Thomas Manns Novelle. Bedeutendes hat der Komponist aber auch im Bereich der Orchester- und Kammermusik hinterlassen, sein „War Requiem“, ein Oratorium der Versöhnung, uraufgeführt 1962 in der wieder aufgebauten Kathedrale von Coventry, gehört längst zum Kernrepertoire.

Daneben hat er immer auch für Laien komponiert, vor allem für Kinder, „The Young Person's Guide to the Orchestra“, Singspiele für Schulaufführungen, raffiniert gearbeitete und dennoch gut sangbare Liederzyklen wie die „Ceremony of Carols“. Das weltweite Jugendprojekt, das vom Aldeburgh-Festival zu seinem Geburtstag initiiert wurde, hätte ihm darum sicher gut gefallen: Über 100 000 Schülerinnen und Schüler werden heute Brittens Song-Sammlung „Friday Afternoons“ anstimmen, rund um den Globus. Die ersten Töne erklingen um drei Uhr morgens unserer Zeit im australischen Melbourne, die letzten um 22 Uhr in Santa Monica im US-Bundesstaat Kalifornien.

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