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Experte für Umwege. Der Brite Geoff Dyer.

© Jason Oddy

Zeit SCHRIFTEN: Von A nach B und Jott-We-De

Gelobt sei die Abschweifung: Der britische Schriftsteller Geoff Dyer begibt sich auf den Spuren von Andrej Tarkowskis Film "Stalker" in eine apokalyptische Zone

Von Gregor Dotzauer

Für Jonathan Lethem ist er schlicht „der führende Meister undefinierbarer Memoir-Essay-Wanderungen durch die unterschiedlichsten Themenfelder: Jazz, D.H. Lawrence, Fotografie, Reisen, Drogen, Sex und so weiter“. Wer mit Geoff Dyer von A nach B gelangen will, kommt tatsächlich oft erst einmal nach Jott-We-De, an einen Punkt, an dem man fast aus der Kurve seines schweifenden Denkens getragen wird, bevor es im Moment der größtmöglichen Abschweifung wundersam konzentriert in sich zurückkehrt. Dyer, 1958 in der englischen Grafschaft Gloucestershire geboren, hat, wie er Lethem in einem E-Mail-Gespräch für das „Bomb Magazine“ verrät (bombsite.com/articles/5988160), ein halbes Leben gebraucht, um diese Kunstfertigkeit zu entwickeln.

Erst 1994, mit dem Erste-Weltkriegs-Buch „The Missing of the Somme“, fand er die Mittel zum „1) Sichheimischfühlen in einem hybriden Weder-dies-noch-das-Revier; 2) für die Entwicklung eines Tons, der sich zwischen Albereien und Feierlichem, Geschichte und Literaturkritik bewegen konnte, ohne in einen merklich anderen Gang zu schalten; 3) die Entwicklung einer Form, die zugunsten einer organischeren und freier fließenden Form ohne Kapitel auskam; und 4) sich gar nicht erst um Gründlichkeit bemühte, indem sie alles beiseite ließ, was mich nicht interessierte.“

Sein jüngstes Buch „Die Zone“ (aus dem Englischen von Marion Kagerer, 233 Seiten, SchirmerMosel, 19,80 €) pflegt diese Tugenden mit Fußnoten, die den Grundtext gelegentlich überwuchern, virtuoser denn je: Das Hauptsächliche und das Nebensächliche halten einander permanent in Schach. Dabei ist Dyers Gegenstand zugleich kleiner und größer als sonst: Mit einer szenengenauen Lektüre von Andrej Tarkowskis Film „Stalker“ (1979) verengt sich der Blick zunächst, um sich als autobiografische Reflexion über die letzten Geheimnisse des Kinos (und des Lebens!) wieder zu öffnen. In einer großen Bewegung vollzieht Dyer die Irrungen und Wirrungen der drei Männer mit, die Tarkowski durch ein tödliches, von einer unbekannten Macht zerstörtes Niemandsland reisen lässt, wohin sie zu einem Zimmer aufgebrochen sind, das die Erfüllung sämtlicher Wünsche verspricht.

Auszüge waren schon letzten Herbst in der „Paris Review“ (www.theparisreview.org) zu lesen, für deren 200. Ausgabe Dyer nun ein kurzes Porträt des ihm seelenverwandten indischen Fotografen Prabuddha Dasgupta (www.prabuddhadasgupta.com) geschrieben hat. Doch natürlich braucht es die ganze romanhafte Länge dieses Textes, der sich gegen alles Romanartige sträubt, um die kontemplative Stärke dieser literary nonfiction zu erleben. Eine Länge, von der Dyer gegenüber Lethem fürchtet, sie werde den Leser, der mehr Zeit als die 160 Minuten des Kinogängers investieren muss, dazu verleiten, das Buch durchzuhetzen. Man kann ihn wohl damit beruhigen, dass sich auch „Die Zone“ nicht einfach auslesen lässt – man kehrt zu ihr zurück.

Dyers frühe Vorbilder hießen John Berger und Roland Barthes. Inzwischen ist er anderen selbst ein Vorbild. Jonathan Lethem hat sich mit einer buchlangen Exegese des Talking-Heads-Albums „Fear of Music“ (Continuum) gerade an einem ähnlichen Projekt versucht, und John Jeremiah Sullivan, der mit „Pulphead“ (siehe Tsp. vom 24.1.) die originellsten Reportagen dieser Jahre vorgelegt hat, bekennt sich zu Dyers prägendem Einfluss.

In einem ertragreichen und witzigen Werkstattgespräch, das die beiden im März bei 192 Books in New York führten (www.fsgworkinprogress.com) staunt Sullivan über Dyers Vertrauen, allein durch die Gestalt der eigenen Gedanken dem Text Struktur geben zu können. Dyer wiederum bewundert an Sullivan, wie ein Absatz nicht im Geringsten auf den nächsten vorausdeutet. Beider Misstrauen gegenüber Romankulissen hat aber auch mit einer „Hilflosigkeit“ (Sullivan) und „Verzweiflung über die Unfähigkeit“ (Dyer) zu tun, sich über die eigenen Schreibweisen hinwegzusetzen. Herzerfrischend, wenngleich kontrovers, auch Dyers im Buch nur en passant erfolgende Abrechnung mit dem Kino der Coen-Brüder: „Humor für Leute ohne Humor“. Sagt einer, der sich zu Recht einen „ G.S.o.H.“ – Great Sense of Humor – zubilligt und ihn in Spuren sogar bei Tarkowski entdeckt.

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