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Yoko Tawada über deutsche Sprache: Die Ruhe im Sturm

Das Wort Katastrophe klingt für japanische Ohren anders als für deutsche

Wir haben als Kind gelernt, im Fall einer Naturkatastrophe Ruhe zu bewahren. Schon wenn ich das Wort „Naturkatastrophe“ höre, werde ich ganz ruhig.

Am 11.März, gleich nach dem Aufstehen, rief mich eine deutsche Bekannte an und fragte, ob meiner Familie in Tokio etwas passiert sei. Ich wusste noch nicht einmal, wovon sie sprach. Ich war im Lauf des Tages immer stärker beeindruckt von den vielen Menschen in Deutschland, aber auch aus Frankreich, Italien, USA und anderen Ländern, die mir ihr Mitgefühl telefonisch oder in E-Mails mitteilten. Was ich dann versuchte, war, von Berlin aus meine Mutter in Tokio anzurufen, aber sehr bald stellte ich fest, dass man telefonisch nicht durchkommt. So schickte ich meinem Vater und meiner Schwester eine E-Mail, um zu erfahren, ob bei ihnen alles in Ordnung sei.

Mein Vater antwortete sofort, dass die S-Bahn am nächsten Tag wieder fahren werde und er dann zum Antiquariat fahren könne, um ein von mir gewünschtes Buch zu besorgen. Das war das Erste, was er schrieb, und ich musste lachen. Natürlich brauche ich das Buch dringend, aber was ist mit dem großen Erdbeben? Ich erinnerte mich langsam, dass man sich in so einer Situation auf ein konkretes, kleines, alltägliches Ding wie ein Buch konzentrieren muss, statt Sätze mit Ausrufezeichen auszusprechen.

Es gibt kein Wort im Japanischen, das dem deutschen Wort „Katastrophe“ genau entspricht. Dieses deutsche Wort wird für die Natur und in der Politik gebraucht. Das ermöglicht den Menschen, bei einer Naturkatastrophe sofort an die Politik zu denken. Mein Vater schrieb noch, dass er nicht nach Hause fahren könne und deshalb im Büro seiner Buchhandlung übernachten werde. Sieben Bücherregale seien umgefallen und Bücher lägen auf dem Fußboden, aber es sei nichts passiert.

Kleine und etwas größere Erdbeben gibt es häufig in Japan. Daher ist es nichts Besonderes, dass die Regale umfallen.

Seit meiner Kindheit habe ich immer wieder gehört, dass es noch zu meinen Lebzeiten zu einem großen Erdbeben in Tokio kommen wird. Ich war auf meine Weise innerlich darauf vorbereitet, aber durch die dramatischen Aufnahmen von Tsunami-Wellen und anderen Szenen, die man im Internet sehen kann, bin ich plötzlich mit einer optisch geprägten, überdimensionalen Angst konfrontiert. Damit hatte ich nicht gerechnet.

Meine innere Vorbereitung war eher prosaisch. Ich dachte immer, selbst wenn das ganze Haus oder die ganze Stadt weggeschwommen sind, muss einer, der überlebt, mit einer Socke oder mit einer Tasse anfangen, das Leben neu aufzubauen. Das Dramatische vermeiden und bei den kleinen Gegenständen bleiben, die man anfassen kann.

Es gibt einige Dinge, über die ich mich gewundert habe. Ich habe zum Beispiel nicht verstanden, dass man so viel vom Stromausfall berichtet, als wäre er das Hauptproblem. Ich habe sogar den Verdacht, dass bestimmte Leute diesen Zustand nutzen, um die Wichtigkeit der Atomkraftwerke zu demonstrieren. „Leute, wenn das Atomkraftwerk nicht arbeitet, sieht das Leben so dunkel aus! Ist es nicht furchtbar?“

In Japan scheint die Sonne häufiger und stärker als in Deutschland, aber es gibt dort weniger Menschen, die glauben, dass man aus der Sonne Energie gewinnen kann. Natürlich gibt es auch in Fukushima viele Menschen, die gegen den Bau der Atomkraftwerke gekämpft haben. Aber ihre Stimmen sind in der japanischen Presse nicht präsent, und über die Gefahr der Radioaktivität wurde noch nie deutlich gesprochen. Man spricht von Naturkatastrophen, für den Tod durch die Radioaktivität aber ist die Natur nicht verantwortlich.

Yoko Tawada, 1960 in Tokio geboren, lebt seit 1982 in Deutschland. Sie schreibt Prosa, Lyrik und Theaterstücke in deutscher und japanischer Sprache. Im Tübinger Konkursbuch Verlag Claudia Gehrke erschien zuletzt ihr Gedichtband „Abenteuer der deutschen Grammatik“.

Yoko Tawada

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