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Vom Behagen in der Kultur. Teilnehmer einer Demonstration der „Pulse of Europe“-Bewegung im März vor dem Kölner Dom.

© picture alliance/dpa/Federico Gambarini

Wertedebatte in Europa: Lieber eine Freud-Kultur als eine Leitkultur

Sigmund Freud und seine Nachfolger bieten die sinnvolle Alternative zur leidvollen Leitkultur. Wir brauchen einen Zuwachs an Reflexion, Klarsicht, Vernunft. Ein Vorschlag.

Von Caroline Fetscher

Also – wie nun? Wer oder was trottet uns als Leitkuh mit Riesenglocke voran? Eine „Leitkultur“? Seltsam, fast anrührend scheint die Idee. Als Argument dafür wird gern der erhoffte Schub an Selbstbewusstsein genannt, welches „die Deutschen“ wieder erwerben und ausstellen mögen. Diese hätten sich, heißt es, eine Art Leidkultur angewöhnt, verharrend in Schuld und Geducktheit. Advokaten der „Leitkultur“ wünschen sich frohen Jubel über „deutsche“ Fußballerbeine; sie bauen auf Bach-Goethe-Beethoven-Injektionen als Medizin für das erschütterte Selbstbewusstsein der Nation.

Statt Leitkultur würde gleichwohl gebraucht, was hier probeweise als das Ethos einer Freud-Kultur skizziert wird: ein Zuwachs an Reflexion, Klarsicht, Vernunft. Selbst und Bewusstsein, ja. Freilich handelt es sich dabei um die beiden wirkmächtigsten, wichtigsten Elemente des Zusichfindens und Beisichseins von Individuen wie Gesellschaften. Zum Selbst und zum Bewusstsein allerdings geht der Weg nirgends über die forcierte Setzung eines „So sind wir!“ oder „So waren wir immer schon!“. Damit erhält man eher Selbstbespiegelung, eher weniger bewusstes Sein. Unverblümt führen das derzeit die „selbstbewussten“ Staaten vor Augen, die samt Führerfigur vor ihren Nationalspiegeln stehen, sich bewundern und Andere im Wortsinn ausgrenzen.

Nein – zum Selbst, zum Bewusstsein geht der Weg über das Erkennen des Anderen, des Nichtselbst, sowie über einen Zugang zum Unbewussten, also zu dem, was die eigene und kollektive Symbolbildung antreibt. Und zu den kollektiven Symbolen zählt das Konstrukt der „Nation“, die doch in keinem von Grenzen umzogenen Territorium, weder zwischen Amrum und dem Allgäu noch zwischen Ostsibirien und dem Ural, je irgendwo ein homogenes „Volk“ umfasst hat, seit der kuriose Begriff Nation erfunden wurde.

Der Weg zum Bewusstsein führt über das Erkennen des Anderen

Worum es ginge? Darum, Gesellschaften und deren Dynamik in ihrer Komplexität und in ihrem historischen Entstehen wenigstens ansatzweise zu begreifen. 1930 erschien Sigmunds Freuds Schrift „Das Unbehagen in der Kultur“, mit der einleuchtenden These, dass Zivilisation unhintergehbar Verzicht auf akute Lustbefriedigung bedeutet, Verzicht auf das Ausagieren sexueller wie aggressiver Impulse. Allein ein Maß an erlernter Affektregulierung ist Garant für zivilisiertes Zusammenleben, ein erhebliches Maß an Sublimierung der Triebe. Aus diesem Vorgang entsteht Kultur, Zivilisation – und das gewisse Unbehagen an ihr: Ich darf ja nicht immer so, wie ich gern will und wünsche, damit mein Wollen und Wünschen nicht mit dem der Anderen kollidiert. Aus diesen Kompromissen resultieren Pakte, aus den Pakten Regelwerke, aus den Regelwerken Gesetze. Im besten Fall ist der Rahmen der Gesetze ein Rechtstaat mit demokratischer Verfassung – eine ununterbrochene, verbale Verhandlung.

Diesen Zustand haben die Länder Europas nach Jahrhunderten der Kriege erreicht, sie verdanken ihm heute mehr als sieben Jahrzehnte Frieden. Leute haben nicht nur in das eigene Spiegelbild geblickt, sondern in die Gesichter der Anderen. Sie haben das Unbehagen in der Kultur nicht mit einem Behagen an irgendeiner „Leitkultur“ oder dem Behagen an einer darwinistisch konnotierten „Natur“ beantwortet, sondern mit einem beeindruckenden, mitreißenden Gestalten demokratischer Zivilisation.

Noch ist es nicht geglückt, die Demokratie selbst libidinös zu besetzen

Wenn jetzt, im Zuge einer verunsichernden Globalisierung und Digitalisierung, neue Ansprüche auf nationale Leitnormen angemeldet werden, kommen sie latenten Aufrufen zur Entsublimierung nahe, zu einer Regression ins Zurück in überwundene Zustände. Es bedeutet, etwa in Deutschland, dass es noch nicht vollends geglückt ist, die Demokratie selbst libidinös zu besetzen – ein Befund, den Margarete und Alexander Mitscherlich in „Die Unfähigkeit zu trauern“ vor mehr als vier Jahrzehnten gestellt haben. Für selbstbewusste Demokraten ist die Demokratie das leitende Moment, nicht diffuse Werte und nicht die Werke einzelner Kulturheroen, die der gesamten Gattung gehören, wie die von Shakespeare oder Cervantes, Laotse oder Voltaire – oder eben Freud.

Mit analytischem Denken lässt sich ertragreich nach dem Selbst, dem Bewussten und dem Unbewussten fragen, ohne aufzutrumpfen oder sich wegzuducken. Leitend ist hier das Erkenntnisinteresse, eine Antwortsuche, die sich mit Ver-Antwortung verbündet.

Man könnte, nur zum Beispiel, fragen, aus welchen Höhlen der Angstlust die paranoiden Symptome der Gegenwart hervordrängen, etwa die Bundeswehr-Nazis und der wachsende Hang, Verschwörungstheorien zu konstruieren und zu konsumieren.

Interessant wären Antworten auf die Frage, warum einem Millionenpublikum allabendlich Morde und Leichen auf allen Kanälen serviert werden oder warum Späße in Comedy und Kabarett zunehmend brutaler, primitiver ad personam ausfallen, anstatt kreativ Strukturen bloßzulegen, bloßzustellen (wie das als einer der wenigen der Ostdeutsche Olaf Schubert unternimmt).

Analytisch zu fragen wäre nach dem länderübergreifenden Syndrom, das eine aktuelle und exzellente Suhrkamp-Anthologie „Die große Regression“ nennt, um eine „internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit“ anzuregen. Und warum – auch die Frage könnte die hiesige geistige Situation bewegen – traut sich in Deutschland kein Politiker, so wie Frankreichs designierter Präsident Emmanuel Macron, das Wort Gerechtigkeit auf die Europa-Fahne zu schreiben, auf ein supranationales Symbol? Er hat damit Erfolg. Wir sind noch nicht so weit? Ab und zu ein paar Stunden Freud-Kultur auf einer Europa-Couch, dazu dürfte ein Europa-Coach den Deutschen raten.

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