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Vorwärts immer, rückwärts nimmer. Serge Aimé Coulibalys Fela-Kuti-Hommage „Kalakuta Republik“ wird in Berlin beim Tanz im August im HAU zu sehen sein.

© AFP/Anne-Christine Poujoulat

Welttheater in Südfrankreich: Ein Kontinent will die Revolte

Spiel der Formen und Kulturen: Zum Abschluss des Festival d’Avignon geht es noch einmal nach Afrika.

Sechzehn nackte Männer und Frauen hopsen in einer sich drehenden Dreiecksfigur über die kahle Bühne, bevor sie sich im Raum verteilen. Dann werden ihnen aus der Kulisse und aus dem Schnürboden wechselnde Gegenstände zugeworfen: Bälle, Wassereimer, Wischlappen. Jedes Objekt stößt ein neues Spiel an, und das wird exekutiert bis zur Erschöpfung. Die sizilianische Theatermacherin Emma Dante zwingt ihren „Bestie di Scena“, ihren Bühnentieren, eine Anordnung auf, in der es vor allem um eins geht: um ein unentwegtes Müssen. Das war das Leitmotiv bei diesem Festival d’Avignon.

Auch die Familienangehörigen in Simon Stones mit der Amsterdamer Toneelgroep nach Ibsen-Motiven kollagiertem „Ibsen Huis“ müssen die Herrschaft, die Vergewaltigungen, den Ideendiebstahl von Patriarch Cees Kerkman erdulden. Auf der Reise in die psychoanalytisch unterfütterte Familienhölle ist eine Revolte nicht vorgesehen. Und Olivier Pys Schmerzenspoet Lucas muss in „Les Parisiens“ auf der metaphysischen Suche nach Erlösung der gepeinigten Seele bis zum Letzten gehen.

Ein Totentanz der Mutanten

Ein physischer, psychologischer und religiöser Determinismus hat sich bei diesem Festival breit gemacht, eine Seinsergebenheit in herrschende Verhältnisse. Der griechische Künstler Dimitris Papaioannou hat dem mit „The Great Tamer“ dann auch noch das existentielle Müssen hinzugefügt, wenn seine Akteure somnambul in Ritualen des Auftauchens und Vergehens gefangen sind, aus einem grauvertäfelten Boden herausgehoben werden und wie durch einen Zauber dorthin wieder zurückkehren – ein Totentanz der Mutanten, Astronauten, End- und Ewigkeitsgestalten, über deren betörende Figuren ein großer Dompteur wacht, den die Zuschauer so wenig zu sehen bekommen wie Emma Dantes Sportspielleiter. „The Great Tamer“ ist übrigens wieder ein Fall von Welttheater, das Berliner bei der gegenwärtigen Programmpolitik ihrer staatlichen Kulturhäuser nicht zu sehen bekommen werden.

Freuen darf man sich aber auf zwei afrikanische Gastspiele beim Tanz im August im HAU. Serge Aimé Coulibaly aus Burkina Faso hat eine Hommage an den Erfinder des Afro-Beats, den Bandleader, Extremaktivisten und Freiheitskämpfer Fela Kuti erarbeitet, ein ungeheuer energievolles Tanztheater, das in die einstige von Fela ausgerufene Republik Kalakuta und in dessen „Shrine-Club“ in Lagos entführt, bis zu dessen gewaltsamer Zerstörung durch die korrupte Staatsmacht. Auch Dorothée Munyaneza aus Ruanda, die in ihrer musikalisch-atmosphärisch ungeheuer intensiven Performance „Unwanted“ an das Elend vergewaltigter Tutsi-Frauen und ihrer unerwünschten Kinder erinnert, wird im HAU zu Gast sein.

Diesmal kein Making-of bei Katie Mitchell

Schon vor dem Beginn des Festivals in Avignon gab es an dessen diesjährigem Afrika-Fokus heftige Kritik. Dieudonné Niangouna, der führende Vertreter des afrikanischen Theaters und in der kommenden, ersten Spielzeit des Berliner Ensembles von Intendant Oliver Reese als Autor und Regisseur gesetzt, kritisierte ihn heftig: Er zeige ein Afrika, in dem gesungen und getanzt werde, das aber keine Worte habe, um im Nachdenken über die Welt seinen eigenen Beitrag zu leisten. Den Autor, Schauspieler und Regisseur Niangouna, außerdem Organisator eines Festivals in Brazzaville, ärgerte das totale Fehlen von Sprechtheaterproduktionen im Afrika-Programm. Gleichwohl gilt für die gezeigten Arbeiten aus Afrika, dass sie dem europäischen Theater des Müssens in Avignon eine afrikanische Revoltehaltung entgegenstellen, womit allerdings auch banalste Globalisierungs-Klischees bestätigt werden.

Aus der politischen Schieflage seines Programms rettete sich Avignon, seiner großen Tradition gemäß, auch in diesem Jahr wieder durch die Theaterkunst: mit den Toneelgroep-Schauspielern aus Amsterdam, die außer in „Ibsen Huis“ auch in Katie Mitchells „De Meiden“ (Die Zofen) von Jean Genet durch eine schicke holländische Wohnung huschen. Entgegen ihrer Gewohnheit inszeniert Katie Mitchell hier kein Making-of, also nicht das filmische Entstehen der Geschichte im Hier und Jetzt der Aufführung: Keine Videos sind zu sehen, keine parallel zum Geschehen operierenden Geräuschemacher. Auf der Bühne läuft nichts als ein sehr stilles, fast ersticktes Spiel, dessen Naturalismus dem Stück allerdings den bitteren Spaß an Maskerade, Persiflage und Travestie und damit den Autor Genet austreibt. Mitchells Zofen sprechen in dieser Inszenierung untereinander gelegentlich Polnisch. Sie sind Vertreterinnen einer neuen Klasse illegaler Migrantinnen in bösen Ausbeutungsverhältnissen.

Jelinek mit einem Stück über Geflüchtete

In „Grensgeval“ geht es mit Elfriede Jelineks Text „Die Schutzbefohlenen“ um Geflüchtete. Dafür hat sich der Antwerpener Toneelhuis-Direktor Guy Cassiers mit der Choreografin Maud Le Pladec zusammengetan. Stumme Tanzgruppe und Sprecher okkupieren zunächst getrennte Bereiche der Bühne. Was aber als Worte über Flüchtende beginnt, soll zum Wort der Flüchtenden werden. Die ursprüngliche Trennung von europäischen Sprechern und dem stummen Chorus wird aufgehoben; die Wortführer verlassen ihren sicheren Ort und mischen sich ins Gruppenbild der Flüchtenden. In Guy Cassiers sehr formalistischer Arbeit soll das eigentlich Konfusion bedeuten, Überforderung, geteilte Ratlosigkeit und sieht doch aus wie die Identifikation der Europäer mit den Geflüchteten. Mit einer ungewöhnlich breiten Formenpalette bleibt das Festival d’Avignon eine gewaltige Theatermesse, ein Woodstock der Theaterberauschten.

Mit der letzten Premiere im Papstpalast ging es zum Abschluss des Festivals noch einmal nach Afrika. Tatsächlich war aber „Femme Noir“ nicht viel mehr als ein Potpourri von etwas trübe vorgetragenen Texten des senegalesischen Dichters und Unabhängigkeitspräsidenten Léopold Sédar Senghor und den brillant gesungenen Liedern der Singer-Songwriterin Angélique Kidjo. Senghor gilt mit Aimé Césaire als Vorreiter der „Négritude“, der literarischen, frankophonen Variante der schwarzen Befreiung. Aber Isaach de Bankolé, schwarzer Schauspieler der ersten Stunde auf Frankreichs Bühnen und Leinwänden, u.a. bei Patrice Chéreau, wirkte traurig und fehlbesetzt in der Rolle des salbungsvollen Rezitators. Angélique Kidjo musste das dahindämmernde Publikum nach einer halben Stunde mit einer Mitmachnummer reanimieren. Das klatschte und schwofte sich mit „Mama Afrika“ wieder ins Leben zurück. Dieudonné Niangouna hätte es wahrscheinlich auch nicht gefallen.

Eberhard Spreng

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