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Kultur: Weiskopf-Preis: Schauen Sie bitte auf Seite 284

Einen "sanften Liebhaber der Apokalypse" hat der Verleger Michael Krüger seinen Freund Paul Wühr genannt. Der am Trasimeno See in Italien lebende Schriftsteller, 74 Jahre alt, erhält nun in Berlin den aus DDR-Zeiten stammenden F.

Einen "sanften Liebhaber der Apokalypse" hat der Verleger Michael Krüger seinen Freund Paul Wühr genannt. Der am Trasimeno See in Italien lebende Schriftsteller, 74 Jahre alt, erhält nun in Berlin den aus DDR-Zeiten stammenden F.C. Weiskopf-Preis. Den mit 10 000 Mark dotierten Preis haben seit 1957 unter anderen Stephan Hermlin, Victor Klemperer, Johannes Bobrowski, Bert Papenfuß und Thomas Rosenlöcher bekommen. Franz Carl Weiskopf, geboren 1900 in Prag, gestorben 1955 in Ost-Berlin, ist gemessen an Wühr der ungleich schlichtere Autor - und doch respektabler Preis-Patron. Der heute fast vergessene Schriftsteller und Diplomat musste 1939 über Paris in die USA emigrieren. Sein wohl wichtigstes Werk ist ein früher, 1947 veröffentlichter Abriss der deutschen Literatur im Exil ("Unter fremden Himmeln").

Der 1927 in München geborene Paul Wühr hat seit den sechziger Jahren ein mehrere tausend Seiten umfassendes, außergewöhnliches Werk aus Gedichten, Prosa, O-Ton-Hörspielen, ästhetischen und werkbiographischen Tagebüchern publiziert. Die meisten seiner Bücher sind im Carl Hanser Verlag erschienen, im Münchner Literaturhaus hat es 1997 eine Wühr-Ausstellung gegeben, und seit 1997 erscheint im Rimbaud Verlag sogar ein Paul-Wühr-Jahrbuch. Jüngere Schriftsteller wie Franz Josef Czernin oder Ernst-Wilhelm Händler beziehen sich in ihrem Werk auf Wühr. Ein verkannter, von Kritikern oder Germanisten übersehener Autor ist Wühr also gewiss nicht - aber er ist nicht im Gerede des Literaturbetriebs.

Mit dem 1983 erschienenen Großwerk "Das falsche Buch", einem mitunter wunderbar obszönen "Romantheater", hat Wühr den geistes-sinnlichsten, den multipel erotischsten Roman über die grundlegende Frage des falschen Lebens im Richtigen und des richtigen Denkens im Falschen geschrieben. Hier geht was ab, das man zugleich als hundsföttisch, kynisch, philosophisch und unterhaltsam bezeichnen könnte. Am Anfang des Buches überschreitet der Leser zusammen mit dem Erzähler eine von diesem selbst errichtete Polizeisperre, und sofort beginnt der Umbau der Welt, bei dem Johann Georg Hamann, der Irrationalist am Ende der Aufklärung, ebenso Hand anlegt wie Jacques Lacan oder der amerikanische Ingenieur, Architekt und Utopist Richard Buckminster Fuller. Auf genau jener Seite 284 des 1970 erschienenen topographischen Buches "Gegenmünchen", die das "Falsche Buch" uns aufzuschlagen empfiehlt, finden wir das Stichwort Wührscher Erzähldramaturgie: die Explosion des Bewusstseins.

Paul Wührs poetisches Werk zeugt von höchster rhetorischer Sprachkunst ("Rede" und "Sage" heißen zwei der früheren Gedichtbände) und erinnert nachdrücklich daran, dass Dichtung einen in ernsten Spielen gewonnenen, bewusstseinserweiternden Erkenntniswert hat. "Salve res publica poetica" (1997), der Entwurf einer literaturgeschichtlich begründeten, aber in unmittelbarer Gegenwart sich realisierenden poetischen Republik, und "Venus im Pudel" (2000), das revolutionär-kritische und frivole Dichtwerk über das Leben von Frau und Mann in Kirche und Staat, sind keine additiven Gedichtsammlungen, sondern groß angelegte sieben- und achthundert Seiten starke Weltdeutungen am Ende des Millenniums. Soviel gestaltete Frechheit und Freiheit. So viel poetische Denkanstöße in kynischen und venerischen Würfen findet man heute nirgends sonst.

Herbert Wiesner

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