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Das Trio Mopo: Linda Fredriksson, Eero Tikkanen und Eeti Nieminen (v.l.)

© Maarit Kytöharju

We Jazz Festival: Um die Ecke hören

Beim We Jazz Festival in Helsinki konnte man erleben, warum die finnische Szene derzeit so dynamisch ist.

Viele, viele Menschen, eingezäunt von fettem Mauerwerk. Sitzplätze? Rar gesät. Und an den Höhepunkten dieses Abends kommt man gar nicht erst auf die Idee, durch die massive Menge im Ääniwalli zu schwimmen. Das Fabrikgelände im abgelegenen, ehemals industriellen Norden von Helsinki ist eigentlich ein Techno-Club: Zwei Räume werden durch einen schlauchförmigen Durchgang verbunden, an den Wänden und der Decke hängen monströse Lautsprecherblöcke der Firma Funktion One – die gleichen, die im Berghain für den Sound sorgen. Hier spielt sich der diesjährige Höhepunkt des Festivals We Jazz ab, das seit 2013 in der finnischen Hauptstadt stattfindet.

Techno-Club, Eck-Café, Kunstgalerie oder ausgedientes Kino: Um die Ecke zu denken und Jazz an ungewöhnlichen Orten zu präsentieren, ist typisch für We Jazz. Und nicht nur damit hat sich das kleine Team einen Namen gemacht: Auch die erstaunlich breite Palette an finnischen und internationalen Künstlern, die neun Tage lang ihre Interpretation von zeitgenössischem Jazz dem bunt gemischten Publikum präsentieren, ist besonders.

Stilistische Kontraste

Da wundert es nicht, dass einige der 25 Zuschauer, die in ein kleines Hotelzimmer gepresst dem verträumt-nostalgischen Gitarrenjazz des 16-jährigen Lokaltalents Milo Mäkelä lauschen, zwei Nächte später mit 200 anderen von den düsteren Klangwelten des Schlagzeugers Olavi Louhivuori und seinem Projekt Immediate Music 1 ergriffen werden. Der begnadete Techniker Louhivuori und sein Trio wabern im eigentümlichen Dreiecksgraben zwischen Industrial Noise, finnischer Volksmusik und Free Jazz umher.

Stilistische Kontraste sind bei We Jazz ohnehin Programm. So spielt etwa an einem Abend erst das Quartett des deutschen Schlagzeugers Jochen Rückert mit dem US-amerikanischen Saxofon-Giganten Mark Turner. Anschließend ist das Megalodon Collective zu hören. Die beiden Schlagzeuger der norwegischen Newcomer stacheln sich zu polyrhythmischer Zweisamkeit an, während drei Saxofone ihre von Afrobeat und Funk inspirierten Linien miteinander verschlingen.

Offene Ohren, lockerer Ton

Den vielfältigen Ansatz des Festivals erklärt der künstlerische Leiter Matti Nives damit, dass „unsere Inspiration von anderen Kunst- und Musikfestivals kommt, die oft gezwungen sind, sich jedes Mal neu zu erfinden“. Ständig spähen er und sein Team neue Schauplätze aus; auch arbeitet er eng mit der staatlichen Sibelius-Akademie zusammen, der prestigeträchtigsten finnischen Musikhochschule, die für viele der lokalen Ensembles Ausbildungsstätte und Startrampe ist. „Wir versuchen natürlich, professionell zu arbeiten, aber wollen uns unseren Hobby-Enthusiasmus bewahren“, sagt Nives, der während eines live im Radio übertragenen Jazz-Brunches mit den Zuschauern ins Gespräch kommt. Solche Begegnungsmöglichkeiten gibt es zuhauf, es herrscht ein lockerer Ton. Die Zuschauer sollten offene Ohren und Lust auf Ungewöhnliches mitbringen: Wenn etwa der Schlagzeuger Joonas Leppänen mit seinem tollen Ensemble Alder Ego die Galerie Helsinki Contemporary in einen Konzertsaal verwandelt und sein vom abgeklärten Post-Bop der blühenden Sechziger inspirierter Sound neben zeitgenössischen Gemälden richtig zum Leben erwacht.

Joonas Leppänen vom Ensemble Alder Ego.
Joonas Leppänen vom Ensemble Alder Ego.

© Jere Elo

Einen neuen Impuls bekam We Jazz durch das gleichnamige Plattenlabel, das Nives seit rund eineinhalb Jahren führt. Mit zwölf Veröffentlichungen, von Länge und Aufmachung ganz auf Vinyl-Format zugeschnitten, machen die Finnen damit vor allem in Europa auf sich aufmerksam. Beim Scope Festival, das im Oktober skandinavischen Jazz in Berlin präsentierte, haben drei der We-Jazz-Acts gezeigt, warum die umtriebige finnische Jazzszene momentan auf einem Hoch schwebt. Eine frische Dynamik geht von ihr aus, das gilt sowohl für die jüngeren Bands als auch für etablierte Musiker wie den Saxofonisten Jukka Perko, der auf We Jazz ein Tributalbum für Dizzy Gillespie aufgenommen hat. In den späten Achtzigern hatte der blutjunge Perko in dessen Band gespielt.

Hinzu kommt die archivarische Entdeckungsarbeit, die viele bisher nicht verfügbare Schätze ans Licht geholt hat: Seit den mittleren Sechzigern hat sich in Finnland eine stilistisch ganz eigenständige Jazzszene entwickelt und ihren charakteristischen Sound auf Tonträgern festgehalten, von denen der Rest der Welt bisher nicht viel wusste. Labels wie Svart Records haben in den vergangenen Jahren viele dieser Alben wiederveröffentlicht und den finnischen Jazz auch retrospektiv in ein neues Licht gerückt.

Das Trio Mopo hat mit "Tökkö" einen kleinen Hit

Zurück ins Ääniwalli: Fünf Bands geben sich auf den zwei Bühnen die Ehre, es ist ein straffes Programm. Den Anfang macht das Trio Mopo. Mit Frontfrau Linda Fredriksson und ihrem krakeelenden Baritonsax bringen die drei Finnen gleich mit der ersten Nummer richtig Dampf in den Raum. „Tökkö“ heißt das Stück, dessen rotzige Punk-Attitüde so schräg tanzbar ist, dass die Nummer gerade auf einigen Radiosendern und Spotify-Listen zu finden ist. Die Vinyl-Single ist bereits erschienen, das Album der Gruppe kommt im Januar. Darauf werden auch andere Klänge zu hören sein: die schwärmerisch versunkenen Adaption eines finnischen Volksliedes etwa oder ein hart groovender Jazz-Waltz, auf dem Fredriksson – jetzt am Alt – auf einmal die vorsichtige Lyrizität und den hauchenden Ton Paul Desmonds durch ihr Instrument bringt.

Ein anderes Highlight sind die drei jungen Musiker von Virta, die mit ihrem Stilmix aus Post-Rock, basslastigen Electronica-Einflüssen und nordischem Jazz einen wirklich eigenen Sound haben. Dichte Nebelschwaden füllen den Raum, darüber glimmt die hohe Stimme von Antti Hevosmaa in langen, verhallten Seufzern über den sphärischen Klangflächen. Aus seinem Computer schießen Loops und sogar rückwärts abgespielte Schnipsel, auf denen die kristallklaren Becken des Schlagzeugers Erik Fräki den Takt vorgeben. Das Klanggebilde wird immer dichter, bis Hevosmaa sein Flügelhorn auspackt, ans Mikrofon richtet und das Trio mit der krächzenden Reibeisenstimme seines Instruments weiter vorantreibt. Mit einem tiefen Atemzug hören die drei Finnen urplötzlich auf, das Publikum jubelt.

Ein wohliges Gefühl bleibt zurück. Und Nives schmiedet schon vorsichtig Pläne für die kommende Ausgabe: „Wir könnten ein Jahr Pause machen, wir könnten auch doppelt so groß werden. Ich habe auf jeden Fall das Gefühl, dass wir uns neu erfinden müssen. Auch die Leute erwarten das von uns, das spüre ich zum ersten Mal.“ Wie genau das aussehen wird, kann man nächsten Dezember in Helsinki erleben. Eins ist klar: Im finnischen Jazz herrscht Aufbruchstimmung.

Die Reise nach Helsinki war eine Einladung des Festivals.

Ken Münster

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