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Was machen wir heute?: In den Westen ziehen

Wie eine West-Berlinerin die Stadt erleben kann

Geht das überhaupt? Kann man, darf man – soll man das noch: 20 Jahre nach dem Mauerfall eine Kolumne als West-Berlinerin schreiben? Die Frage habe ich mir in den letzten Monaten häufiger gestellt. Zumindest bis zu den Bundestagswahlen. Als ich die Grafik sah, mit der die Berliner Mehrheitsverhältnisse dargestellt wurden – links ein schwarzer Block, rechts ein roter und in der Mitte ein kleiner grüner Klecks –, bin ich ins Grübeln gekommen. Scheint doch noch eine geteilte Stadt zu sein. (Wobei ich nach dieser Grafik eher gefühlte Mitte-Berlinerin bin.)

Alten West-Berliner Zeiten nachzuweinen, wie es einige jetzt anlässlich des Jubiläums taten, dazu habe ich wenig Lust. Dann schon lieber in den ganz alten Westen gehen, das Westend von Joachim Ringelnatz, diesem wunderbaren Künstler, Dichter und Performer. Zu seinem heutigen 75. Todestag ist ein Buch erschienen aus und über seine Berliner Zeit, in dem auch seine Ode an die Nachtigall am Sachsenplatz enthalten ist, wo der Schriftsteller mit seiner „Muschelkalk“ wohnte. Wo sonst, Sachsenplatz reimt sich auf Ringelnatz, und in Charlottenburg war damals die Bohème zu Hause. Bald ist es wohl wieder so weit, so viele Künstler wie da wohnen oder mindestens dorthinziehen wollen.

Ach, Ringelnatz. 75 Jahre tot und noch so jung! Viele der Texte, über den Ruinenkult zum Beispiel oder die Stadt an den Kanälen, lesen sich so frisch wie gerade geschrieben. Auch in den traurigsten Gedichten ist das Buch eine einzige Liebeserklärung an das schmuddelige Berlin, in das der Dichter Ende der 20er Jahre aus der „dümmsten Stadt der Welt“ gezogen ist, aus dem geleckten München. Wie jubelt er am Ende eines Poems: „Pfui Spinne, Berlin!“ Susanne Kippenberger

„Nach Berlin, nach Berlin, nach Berlin!“, Verlag für Berlin-Brandenburg, 19,90 Euro. Am Freitag um 20.30 Uhr stellt Herausgeber Frank Möbius den Band im Buchhändlerkeller in Charlottenburg vor (Carmerstr. 1). Als Gast tritt das West-Berliner Urgestein Otto Sander auf, der am 18. Dezember im Berliner Ensemble einen ganzen Abend Ringelnatz widmen wird.

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