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Vernetzerin: Virve Sutinen.

© Oliver Mark

Virve Sutinen leitet Festival "Tanz im August": Der nordische Blick

Seit 25 Jahren holt das Festival „Tanz im August“ die bewegte Welt nach Berlin. Virve Sutinen wird es 2014 und 2015 leiten. Eine Begegnung mit der finnischen Kuratorin.

Von Sandra Luzina

Vor kurzem hat Virve Sutinen ein Gedankenexperiment angestellt. Sie fragte sich, wie ihr Leben wohl aussehen würde, wenn sie alle Tanzaktivitäten abziehen würde. Nicht, dass die rührige Finnin keine anderen Interessen hätte. Aber etwas Entscheidendes würde fehlen. „Ich liebe den Tanz und befrage ihn gleichzeitig“, sagt sie. Er ist für sie eine Weise des Denkens und Fühlens, ein Werkzeug, um die Welt zu verstehen. „Das ist es, was ich auch anderen anbieten möchte.“

Sutinen, 1962 in Helsinki geboren, wird die nächsten beiden Ausgaben von „Tanz im August“ (15. bis 30. August) leiten. Dass sie nur einen Vertrag mit kurzer Laufzeit hat, liegt an einer der berüchtigten Klippen des Berliner Haushaltes: Die Finanzierung des Festivals ist nur bis 2015 gesichert. Wenig Zeit, und die Finanzierung ist, gemessen an der Größe des Festivals, auch nicht allzu üppig. Virve Sutinen klagt nicht, sondern übt sich in Pragmatismus: „Wir haben ein zu bescheidenes Budget, um alle aktuellen Tendenzen aus jedem Winkel dieser Welt zeigen zu können.“ Fokussierung ist angesagt.

Zu den Kuratoren, die bei Null anfangen wollen, gehört sie nicht. Lieber schaut sie, was da ist, und ändert Dinge nur graduell. „Damit wir nicht das Vertrauen des Publikums verlieren.“ Kinder könnten gar nicht früh genug an die Kunst herangeführt werden, ist sie überzeugt. Mit „Sensational“ von der spanischen Gruppe Imaginart zeigt sie deshalb ein Stück für die Drei- bis Fünfjährigen. So ein junges Publikum hatte der „Tanz im August“ noch nie.

Virve Sutinen: "Ich war hungrig nach Tanz"

Selbst hat Virve Sutinen eine privilegierte Erziehung genossen. Mit sechs Jahren besuchte sie eine Ballettschule in Helsinki, studierte später drei Jahre modernen Tanz, gründete ihre eigene Company und machte ihr Tanzpädagogikdiplom. Nachts feierte sie in den Clubs. „Ich war hungrig nach allen Arten von Tanz.“ Die junge Virve mischte überall mit. So gründete sie einen Punkclub – ihr erstes eigenes Projekt – und engagierte sich in der Hausbesetzerbewegung. Wenn sie aus ihrer bewegten Biografie erzählt, hat man den Eindruck: Diese Frau hat mehrere Leben gelebt.

Eine Schlüsselszene spielte sich in New York ab. Anfang der Neunziger wollten alle unbedingt Performance Studies an der New York University studieren – dort lehrte der Theaterguru Richard Schechner. „Drei Stunden saß ich in seiner Klasse und habe nichts begriffen“, erzählt Sutinen. „Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie geschockt ich war.“ Damals hat sie sich geschworen zurückzukommen. Was sie dann auch tat, ihren Master hat sie in New York gemacht.

Zurück in Finnland arbeitete sie für verschiedene Tanzinstitutionen und leitete mehrere Festivals. Zehn Jahre war sie für das Performing Arts Programm von Kiasma, dem Museum of Contemporary Art in Helsinki, verantwortlich. „Eine aufregende Zeit“, erinnert sie sich. Damals knüpfte sie wichtige Kontakte zur internationalen Performanceszene. Zuletzt leitete sie sechs Jahre das Dansens Hus in Stockholm. Die gut vernetzte Theatermacherin will das Publikum verführen, ihm nicht eine bestimmte Sicht der Welt aufzwingen. Doch natürlich hat sie einen sehr „nordischen Blick“, deswegen sind Genderfragen so wichtig für sie: „Ich komme aus einem demokratischen, egalitären Land. Auch wenn Finnland keine ideale Gesellschaft ist – diese Werte haben mich geprägt.“

Sutinen wird neue Namen aus Spanien und Italien präsentieren

Skandinavisch dominiert wird der „Tanz im August“ aber deswegen nicht sein. Sutinen hat sich vor allem im Süden Europas umgeschaut und wird neue Namen präsentieren, aus Spanien etwa das Künstlerkollektiv La Veronal, auch eine Produktion aus Italien hat sie eingeladen. Doch keine Angst: Eine politische Landkarte will sie nicht abstecken, überhaupt wirkt sie recht undogmatisch, ist fasziniert von der Vielfältigkeit des zeitgenössischen Tanzes und möchte möglichst viele verschiedene Facetten davon zeigen: „Das Feine und das Rohe, Ballett, Punk und Urban Dance.“

Die Befürchtung, dass sie vor allem intellektuelle Arbeiten zeigt, ist jedenfalls unbegründet. „In der Kultur gibt es die Farmer und die Cowboys“, erklärt Sutinen und zieht einen Vergleich von Brian Eno heran. „Die Farmer bewirtschaften das Land, die Cowboys erobern neue Territorien – beide sind wichtig.“ Sie wird also nicht nur mit den Cowboys davongaloppieren.

"Tanz kann den Fragen nach Identität, Rasse und Geschlecht gar nicht entkommen."

Vernetzerin: Virve Sutinen.
Vernetzerin: Virve Sutinen.

© Oliver Mark

Insgesamt sind 20 Kompanien beim „Tanz im August“ zu sehen. Einige Name verrät sie schon vorab, auch größere Ensembles sind darunter. Michael Clark aus London präsentiert „animal / vegetable / mineral“. „Ich wünschte, es gäbe mehr Choreografen, die so auf das Ballettvokabular schauen wie Clark“, schwärmt Sutinen. Anne Teresa De Keersmaeker zeigt ihre neue Arbeit „Vortex Temporum“, die in Zusammenarbeit mit dem Neue- Musik-Ensemble Ictus entstanden ist. Die Flämin ist für Sutinen derzeit die Größte. „Sie verbindet Musikalität, Denken und Emotion.“ Das schwedische Cullberg Ballett, das länger nicht in Berlin zu sehen war, kommt mit „Plateau Effect“, einem Stück des jungen Choreografen Jefta van Dinther.

Als Kuratorin kann sie die Entwicklung im Tanz mit vorantreiben, glaubt sie. Zu den Künstlern, die sie schon früher unterstützt hat, gehört der New Yorker Choreograf Trajal Harrell, der schwule Themen behandelt. Er kommt mit „Antigone Sr. (L)“ nach Berlin, eine Arbeit, die den queeren Vogue-Stil mit der antiken Tragödie verbinden will. Gesellschaftspolitische Themen können durchaus auf der Bühne verhandelt werden, glaubt Sutinen. „Den Fragen nach Identität, Rasse und Geschlecht kann der Tanz gar nicht entkommen.“

Festivals müssen neue Wege finden

Ein Festival braucht Spannung und Reibung. Sutinen möchte die Zuschauer nicht verprellen, herausfordern aber schon. Andere Veranstalter in Berlin sieht sie nicht als Konkurrenz. „Es ist doch toll, dass ,Foreign Affairs’ auch große Namen einladen. Ein Wettstreit wäre lächerlich.“ Festivals müssen neue Wege finden, um Kunst zu promoten, glaubt Sutinen. Sie hat sich nach Partnern in der Stadt umgeschaut und für dieses Jahr Unterstützung bei der privaten Aventis Foundation gefunden. „Ein Anfang“, freut sie sich. Für 2015 kann sie sich auch Koproduktionen mit Berliner Gruppen vorstellen.

Seit Januar lebt sie in Berlin – einer Stadt mit einer fantastischen Tanzkultur, findet sie. Häufig trifft man sie, lachend, auf Premieren. Bei Virve Sutinen hat man den Eindruck, dass sie liebt, was sie tut. „Ich arbeite gern mit Menschen“, bekräftigt sie. „Wir sind so seltsame Geschöpfe – das erfüllt mich immer wieder mit Erstaunen.“

Der Kartenvorverkauf für ausgewählte Produktionen beginnt am 10. Mai 2014. Weitere Infos: tanzimaugust.de

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