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Fiktion trifft Wirklichkeit. Uwe Timm gelang 2003 mit seiner autobiografischen Kriegserinnerung „Am Beispiel meines Bruders“ ein Bestseller.

© David Ebener/p-a/dpa

Uwe Timms Roman „Ikarien“: Pakt mit dem Teufel

Wer war Alfred Ploetz? In seinem Zeitroman „Ikarien“ spürt Uwe Timm einem Wegbereiter der NS-Euthanasie nach.

Uwe Timm ist einer der großen Erzähler der Gegenwart. Seine Bücher werden überall auf der Welt gelesen, was man von nur wenigen deutschsprachigen Autoren unseres Jahrhunderts sagen kann. Dass man die Tiefe an der Oberfläche verstecken müsse, war schon ein Grundsatz Hugo von Hofmannsthals. Die Kenntnis der Weltliteratur wird bei Timm nicht mit prunkenden Zitaten zur Schau gestellt, sondern in kryptischen Anspielungen, versteckten intertextuellen Hinweisen. Zudem ist er ein genauer Analytiker der politischen Verwerfungen im 20. Jahrhundert.

„Ikarien“, der Titel seines jüngsten Erzählwerks, erinnert an den vergessenen Roman „Die Reise nach Ikarien“ von Étienne Cabet. Das war ein französischer linker Jurist und Sozialvisionär, dessen große Stunde in der Mitte des 19. Jahrhunderts schlug, als die beiden Revolutionen von 1830 und 1848 nicht brachten, was sich die Arbeiter und Handwerker von ihnen versprochen hatten. Als sozialistischer Kritiker des Juste Milieu wurde der Autor vom Bürgerkönig ins englische Exil gezwungen.

In London nutzte Cabet die Zeit, um den utopischen Roman „Die Reise nach Ikarien“ zu schreiben. Der mischte 1840 die politische Diskussion in Paris vergleichbar stark auf wie 1823 das „Mémorial de Sainte-Hélène“ Napoleons. Was ankam, war die neuartige Symbiose von christlich-pragmatischer Brüderlichkeit und geradezu inbrünstiger Technikgläubigkeit. Marx und Engels, die Klassenkampf als Bürgerkrieg predigten, bekamen bei so viel Idealismus Lachanfälle.

Unterhaltsame, mit Humor geschilderte Abschnitte

Timms Roman handelt nur zum Teil vom 19. Jahrhundert, er ist eigentlich ein Zeitroman. Die autobiografische Erzählung „Am Beispiel meines Bruders“ von 2003 vergegenwärtigte den Zweiten Weltkrieg. „Ikarien“ beginnt mit dem gleichen Personal, ist aber Fiktion, gleichsam ein Stück alternativer, hypothetischer, konjekturaler Geschichtsschreibung. Aus „Am Beispiel meines Bruders“ ist die Familienkonstellation bekannt: Da ist der Vater, der Ende der 1920er Jahre in Hamburg eine Werkstatt als Tierpräparator eröffnet. In beiden Büchern wird mehrfach wiederholt, wie er einen Gorilla so lebensecht auszustopfen versteht, dass sich sein Ruf als Meister des Metiers in der Fachwelt herumspricht. Ein renommiertes Museum in den USA bietet ihm die Stelle als Chef-Präparator an.

In dem Buch von 2003 lehnt er das Angebot aus patriotischen Gründen ab und bleibt in Deutschland. Sein ältester Sohn meldet sich einige Jahre später zur Waffen-SS und fällt an der Ostfront. Im neuen Roman läuft alles anders: der Vater, der hier nicht Timm, sondern Hansen heißt, nimmt 1932 das Angebot des New Yorker Museums an. So wird der älteste Sohn Michael Amerikaner und absolviert sein Germanistikstudium bei einem exilierten jüdischen Professor. Kurz vor Kriegsende wird er noch in die US- Army eingezogen. Wie in „Am Beispiel meines Bruders“ spielen Tagebucheintragungen des jungen Mannes auch in „Ikarien“ eine strukturbildende Rolle.

Hansen ist Besatzungssoldat in Bayern und erhält einen Auftrag, der im Zusammenhang steht mit den Prozessen der Siegermächte gegen nationalsozialistische Mediziner, die sich Vergehen gegen die Menschlichkeit haben zuschulden kommen lassen. Er genießt zunächst die Annehmlichkeiten, die ihm als Mitglied der amerikanischen Okkupation zufallen. Dazu gehören eine requirierte Villa am Ammersee, ein schickes Auto sowie Affären mit einer Kollegin aus dem US-Militär und einer jungen deutschen Kriegerwitwe. Das sind unterhaltsame, mit Humor geschilderte Abschnitte.

Ehemalige Freunde als Erzähler

Michael soll etwas über den Eugeniker Alfred Ploetz herausfinden. Ploetz, eine Figur aus der Realhistorie, war zwar schon 1940 gestorben, doch hatten seine rassistischen „Forschungen“ Anteil daran, dass die Eugenik der Euthanasie im „Dritten Reich“ immer stärker zuarbeitete. Euthanasie war damals ein verlogen euphemistischer Begriff, denn es ging um die Tötung geistig und körperlich behinderter Menschen.

Dieser Massenmord begann 1939 bald nach Kriegsausbruch. Viele Vernichtungsmechanismen, die man aus der Geschichte der Shoah kennt, wurden hier bereits angewendet: Verschleppung, Vergasung und Erschießung. Da Alfred Ploetz nicht mehr lebt, sucht man nach einem Zeitzeugen, der die Biografie des Eugenikers kennt. Gefunden wird er in Wagner, einem ehemaligen Freund und Famulus des etwas älteren Ploetz. Wagner ist eine erfundene Figur. Man denkt an Wagner in Goethes „Faust“. Der Hinweis bezieht sich auf Goethes Teufelspakt-Tragödie, damit aber auch auf den „Doktor Faustus“, den Thomas Mann 1947 veröffentlichte. In „Ikarien“ wie im „Doktor Faustus“ gibt es ehemalige Freunde als Erzähler. Zeitblom ist der katholische Humanist, der seine Ideale im Werk des Erasmus von Rotterdam formuliert findet und sich damit von Leverkühn absetzt; Wagner, ebenfalls Vertretrer des inneren Exils, ist ein Sozialrevolutionär, für den Étienne Cabet, Gustav Landauer, Ernst Toller und Ernst Bloch Autoren sind, die seine Ethik des humanistischen Sozialismus geprägt haben. Auch „Ikarien“ ist ein Teufelspakt-Roman.

Versuch von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit

Wagner berichtet Hansen: Die Auseinandersetzung mit Étienne Cabet spielte eine entscheidende Rolle in den studentischen Kreisen, in denen sich Ploetz und Wagner in den 1880er Jahren bewegten. Sie gründeten gemeinsam mit Gerhart Hauptmann, seinem Bruder Carl und anderen die sozialistische „Gesellschaft Pacific“. Die wurde unter Bismarck nicht geduldet, es gab einen Prozess und die meisten Mitglieder flohen nach Zürich. Im Exil setzten sie ihr Studium fort, hingen weiter an ihren Idealen und unternahmen Reisen auf den Spuren von Cabet.

Der wollte 1849 in den USA seine Träume verwirklichen, wie er sie in der „Reise nach Ikarien“ zu Papier gebracht hatte. In Frankreich ging das nicht, denn Napoleon III. duldete keine Sozialisten, die das Privateigentum abschaffen wollten. Mit einigen hundert Anhängern erprobte er Freiheit-Gleichheit-Brüderlichkeit in dem winzigen, am Mississippi gelegenen Ort Nauvoo in Illinois. So inspirierend das Buch über das erdachte Ikarien gewesen war, so unüberbrückbar hart im Raume stießen sich die Sachen bei der Durchführung des sozialen Experiments. Nach fünf Jahren hatte Cabet allen Kredit als charismatischer Prophet der neuen egalitären Gesellschaft verspielt; er wurde verjagt und zog sich mit wenigen Anhängern 1856 nach St. Louis zurück, wo er nach zwei Monaten starb.

Hitler war von Ploetzschen Züchtungsideen begeistert

Wagner wurde als Sozialist verhaftet und in ein Konzentrationslager verbracht, wo er auf Fürsprache von Ploetz entlassen wurde. Bis 1945 führte er eine troglodytische Existenz in München. Anders als Wagner interessierte sich Ploetz von Anfang an mehr für die autoritären Aspekte in den sozialistischen Utopien, für deren Erziehungs- und Züchtungsideen. Bald aber kehrte er sich von den Zielen der Jugendzeit ab, fand die Rassenideen von den arischen Herrenmenschen attraktiv, wie sie bei der extremen Rechten zirkulierten. Hitler war begeistert von den Ploetzschen Züchtungsideen zum Erhalt der „nordischen Rasse“, deren Kehrseite mit Abtreibung, Sterilisierung und „Ausmerzung“ ihn besonders in den Bann schlug. Hier brauchte Hitler keine Überzeugungsarbeit zu leisten: Er fand sich selbst in der Rolle des Adlatus. Sobald die Diktatur etabliert war, förderte er die Ploetz-Projekte.

Als er den Abschied aus der Besatzungsarmee erhält, befragen die Vorgesetzten Hansen über seine Zukunftspläne. Die Kontakte mit jungen Deutschen hätten ihm gezeigt, dass Interesse an amerikanischer Literatur bestehe. Man sollte in den deutschen Städten US-Leihbibliotheken einrichten; bei dieser Arbeit würde er gerne helfen. Eine Militärverwaltung, die sich für die Verbreitung von Dichtung einsetzt? Das gab es einmal in einem anderen Jahrhundert. Die heute noch bestehenden Amerikahäuser erinnern daran.

Uwe Timm: Ikarien. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017. 512 Seiten, 24 €.

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