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Kultur: Ulrike kann alles erklären

Eine zerrissene Familie: Anja Röhl hat ein Buch über Ulrike Meinhof geschrieben, die erste Frau ihres Vaters.

Das erbitterte Ringen um die Deutungshoheit über Ulrike Meinhof geht in die nächste Runde. Schon Jutta Ditfurth hatte mit Meinhofs Töchtern, den Zwillingen Bettina und Regina Röhl, ihren Strauß auszufechten. Kurzerhand verzichtete Ditfurth 2007 in ihrer Biografie auf den Nachweis von 6000 Quellen und Anmerkungen, um sich vor juristischen Nachstellungen zu schützen. Sonst wäre das Buch verboten worden.

Nun also die „Erinnerungen an Ulrike“, verfasst von der sieben Jahre älteren Halbschwester Anja Röhl. Sie ist die Tochter aus der ersten Ehe des Verlegers und Autors Klaus Rainer Röhl. Die Zwillinge stammen aus dessen zweiter Ehe mit Ulrike Meinhof. Die ältere Schwester Anja war lange Jahre so etwas wie das Kindermädchen für die Zwillinge. Doch selbst diese liebevolle gemeinsame Zeit kann einen Bruch wegen politischer Differenzen offenbar nicht überbrücken.

Anja Röhl hat mit ihrem Buch ein sehr berührendes, dichtes und wahrhaft wirkendes Bekenntnis abgelegt. Die autoritäre und kinderfeindliche Atmosphäre der 1950er und 1960er Jahre wird darin plastisch geschildert, das bedrückende Schicksal eines Kindes geschiedener Eltern, die Suche nach Liebe und Anerkennung. „Das Buch ist allen Scheidungs-, Trennungs- und Heimkindern gewidmet“, schreibt sie in der Vorbemerkung.

Röhl verzichtet weitgehend auf Kommentare und Erklärungen, sie beschreibt. Sie erzählt aus der Perspektive eines Kindes, eines Mädchens, einer jungen Frau, so die Einteilung in drei Kapitel. Durch die weitgehend lakonische und in der dritten Person gehaltene Erzählweise lässt sie dem Leser viel Raum.

Die Kindheit von drei bis fünf, also bis 1960 etwa, ist bedrückend und erniedrigend, voller Angst und Langeweile. Der Vater ist selten da, im Übrigen sei er aber ein Patriarch, Großkotz, Trinker und Scheusal gewesen. Die Eltern sind zerstritten, die Mutter ist überfordert, sie schlägt, straft, schreit. Das Kind Anja wird herumgestupst und bleibt weitgehend auf sich allein gestellt. „Das Kind will schnell erwachsen sein“, liest man, „es ist nicht gern Kind. Kind sein heißt allein sein, schuld sein, essen müssen, schlafen müssen, brav sein müssen. Kind sein heißt, sich nicht wehren zu können.“

Anja Röhl schildert unglaubliche Szenen mit rabiaten, sadistischen Erzieherinnen in Heimen, in denen sie zeitweise untergebracht war. Sie scheut sich auch nicht, die Übergriffe des Vaters zu beschreiben. Er habe sich sexuell auch für kleine Mädchen interessiert, schreibt Röhl. Ihr Vater streitet das ab. Politische Eckdaten wie die Tötung von Benno Ohnesorg, der Anschlag auf Rudi Dutschke, Vietnam, die Notstandsgesetze erwähnt die Autorin nur am Rande, als Hintergrund zur eigenen Geschichte.

Als Ulrike Meinhof als Freundin, zweite Ehefrau und Mutter der Zwillinge auftaucht, ist das für das junge Mädchen Anja wie eine Erlösung. Ulrike Meinhof ist das Gegenbild zu allen Erwachsenen im Blickfeld des Mädchens. Auf einmal hört ihr jemand zu. Auf einmal nimmt sie jemand ernst. Auf einmal wird sie ermutigt und darf Verantwortung übernehmen. Anja Röhl lebt auf.

„Ulrike lacht viel, weiß viel und kann alles erklären. Vor allem so, dass das Kind es versteht … Ulrike will hören, was das Kind denkt, was es erlebt hat, was es macht. Das Kind fasst Zutrauen, erzählt … Ulrike bringt die Gedanken zum Tanzen. Das Kind bekommt durch sie neue Ideen, eigene Gedanken, die Ulrike anhört, auch wenn sie manchmal anderer Meinung ist. Sie sagt, das Kind solle sich immer eine eigene Meinung bilden, das sei wichtig.“

Anja Röhl schildert in ihrer Erzählung, wie sie als Kind Ulrike Meinhof geliebt hat; wie sie sie als Mädchen verehrt und bewundert hat, auch für ihre Texte und ihre Geduld mit dem jähzornigen, unberechenbaren Vater; wie sie als junge Frau im Austausch, später auch brieflichen Kontakt aus dem Gefängnis, intellektuell (und auch politisch) von ihr beeinflusst wird. Für die Zwillinge ist das offenbar eine Provokation. Eine fürsorgliche, liebevolle, verantwortungsbewusste Mutter? Undenkbar für die Zwillinge, die geprägt sind von Meinhofs Bruch mit den eigenen Töchtern und ihrem Weg in den politischen Untergrund.

Auch diesen Bruch mit der bürgerlichen Welt kommentiert Anja Röhl nicht. Sie schildert nur ihr Entsetzen, als sie von der Verhaftung erfährt; ihre Angst, Ulrike Meinhof könnte auf der Flucht erschossen werden; ihre Besuche im Gefängnis; ihre Ohnmacht schließlich, als sie vom Tod erfährt. Es ist ein bedrückendes Buch. Eines, das den Schrei nach Liebe ausdrückt – und mit den geschwärzten Zeilen auf insgesamt siebzehn Seiten zugleich die Realität einer zerrissenen Familie dokumentiert. Bettina Röhl untersagte sogar, Passagen zu zitieren, die sie selbst bereits veröffentlicht hat.

Immerhin: Die Autorin Anja Röhl scheint ihren Weg gefunden und Frieden gemacht zu haben in ihrem eigenen Leben. Sie hat sich mit ihrer eigenen Mutter halbwegs versöhnt und „einen Weg zueinander gefunden“, wie sie in der Vorbemerkung schreibt. Anja Röhl ist Mutter dreier Kinder, sie arbeitet als freie Dozentin und Theaterrezensentin. Die geschwärzten Zeilen stehen nun im Text als Mahnmal der kaputten Beziehung zu ihren Halbschwestern. Diesem um Wahrhaftigkeit ringenden Bekenntnis ihrer sieben Jahre älteren Halbschwester können sie freilich nichts anhaben.









– Anja Röhl:
Die Frau meines Vaters. Erinnerungen an Ulrike. Edition Nautilus, Hamburg 2013. 160 Seiten, 18 Euro.

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