zum Hauptinhalt
Freibeuter der Kunst. Einer der Teilnehmer beim „Art Hack Day“ .

© Michelle O'Brien

Transmediale: Was der Staub noch taugt

Snowden und die Folgen: Die Transmediale widmet sich der Kehrseite des Virtuellen – und verkündet das postdigitale Zeitalter.

Ein Wald aus gelben Dreibeinstativen erwartet die Besucher im Haus der Kulturen der Welt (HKW). Auf ihnen scheinen Kameras zu stecken. Was nicht ganz korrekt ist, aber das Gefühl, beobachtet zu werden, trügt nicht. Jamie Allen und David Gauthier klären auf: Es sind Landvermessungsgeräte (Theodoliten), aber teilweise auch von den Künstlern selbst gebaute Apparate zum Durchgucken – halb Kamera, halb Display für mehr oder weniger interessante Daten. „Critical Infrastructure“ heißt die Skulptur der beiden Kanadier, die sie als Artists in Residence der diesjährigen Transmediale entworfen haben.

Mit Theodoliten, Thermometern, allen möglichen anderen Sonden vermessen Allen und Gauthier das HKW. Wie zum Beispiel verändern die Besucherströme die Umgebung? „Wir messen sogar die Vibrationen an der Bar“, sagt David Gauthier. Versteckt wird nichts, alle Aktivitäten sind auf Monitoren sichtbar. Aber was oder wem nützt diese Totalvermessung? Eine Inspirationsquelle, erzählt Jamie Allen, war Jorge Luis Borges’ Kurzgeschichte „Von der Strenge der Wissenschaft“ und dessen absurde Idee von einer Karte im Maßstab 1:1, die mit der Zeit die wirkliche Landschaft eines Imperiums ersetzt. Daten, die einem über den Kopf wachsen, die unheimliche Kehrseite des Virtuellen, überhaupt das brandaktuelle Thema Überwachung prägen Kunst, Performances, Filme, Vorträge und Foren des Festivals für Medienkunst und digitale Kultur, das Kristoffer Gansing im dritten Jahr leitet.

Der Medienexperte hat sich bisher nicht gescheut, neben Chancen auch Risiken und Nebenwirkungen des Digitalen zu thematisieren. Plötzlich reden alle über Edward Snowden. Die Transmediale auch. „Wir sind kein Datenschutzfestival“, sagt Gansing, „wir reflektieren aus einer kulturellen Perspektive die Erkenntnisse der vergangenen Monate.“ Er spricht vom Anbruch einer „postdigitalen Ära“. Sein Motto – „Afterglow“ – ist ein ambivalentes Bild für die Phase zwischen Rausch und Hellwachsein, für Katerstimmung und wohliges Nachglimmen der Droge. „Afterglow“, sagt Gansing, sei für ihn vor allem der Moment der stärksten Dämmerung, in dem der Staub der Erde in die Atmosphäre aufsteigt und für einen kurzen Moment aufglüht. Schließt sich da ein Kreis? Marshall McLuhan, der große Medientheoretiker, begrüßte das „Electronic Age“ in den 60er Jahren schließlich als Morgenröte der Zukunft.

Der Staub ist die materielle Seite unserer Medienwelt

Am Dienstag fand in der kanadischen Botschaft bereits eine McLuhan gewidmete „Space Junk Lecture“ statt, vorgetragen von Douglas Coupland, dessen Kunst in der Or Gallery Berlin ausgestellt ist (bis 2. Februar). Und auch Gansing nimmt den digitalen Müll in den Blick. Und zwar den konkreten Abfall. Der „Staub“ ist durchaus die materielle Seite unserer Medienwelt. Gansing möchte sich ungern als „Medienarchäologe“ bezeichnen lassen. Aber für Elektroschrott, für die Sedimente des Informationszeitalters, hat er sich schon immer interessiert.

Sein Vorhaben, auf der Transmediale ausschließlich neue oder in Auftrag gegebene Kunst zu zeigen, hat zum „Art Hack Day“ geführt. In den 48 Stunden vor Eröffnung des Festivals haben 80 „Künstler, die sich der Technik bedienen und Hacker, deren Medium die Kunst ist“ (Gansing) eine Ausstellung improvisiert. Viele arbeiten mit ausrangierten Teilen von Computern oder Druckern. Zwar wird der Begriff „Hacker“ heute meist für Experten gebraucht, die in Computernetze eindringen, aber ursprünglich wurden auch versponnene Tüftler so genannt. Kristina Lindström und Åsa Ståhl waren beim Art Hack Day damit beschäftigt, Handy- Platinen zu zerschneiden und goldglänzende Bestandteile in Erlenmeyerkolben zu sammeln. Mit Chemikalien wollen die schwedischen Künstlerinnen das Gold aus den Resten herauslösen und das Edelmetall „zusammen mit den Geschichten, die wir während des Events aufschnappen“, präsentieren. „Weggeworfene Mobiltelefone sind die Lumpen von heute“, sagt Åsa Ståhl, „aber sie sind auch ganz anders: es steckt so viel Persönliches, Intimes und auch Wertvolles darin“.

Wie sollen sich Künstler in Zeiten umfassender Überwachung positionieren?

Um Müll dreht sich auch eines der Late-Night-Gespräche: Der US-Künstler Trevor Paglen fotografiert schon seit Jahren Abhörstationen der NSA. Gemeinsam mit dem Wissenschaftler Ryan Bishop wird er über den Militärschrott sprechen, der seit Generationen produziert wird (Samstag, 22 Uhr). Zu Paglens Enthüllungs-Kunst passt der Titel „Art as Evidence“ einer Konferenz (am heutigen Donnerstag, 20.30 Uhr), in der er mit dem Internetaktivisten Jacob Applebaum und der Dokumentarfilmerin Laura Poitras diskutiert. Es soll darum gehen, wie sich Künstler in Zeiten umfassender Überwachung und Kontrolle positionieren.

Bessere Experten könnte sich Gansing auf dem Podium nicht wünschen. Auf der New Yorker Whitney-Biennale 2012 – einem Kunstevent wohlgemerkt – hielten Applebaum und Poitras ein Teach-in zum Thema Überwachung ab. Dort lernte Edward Snowden die Filmemacherin kennen, die dann eine wichtige Rolle bei der Veröffentlichung seiner Kenntnisse spielte. „Snowden hat uns eine erschreckende Welt gezeigt“, bemerkt Laura Poitras zum NSA-Skandal. „Ich war in Kriegsgebieten unterwegs, aber dies hier ist beängstigender – die Art und Weise, wie diese Macht operiert und wie sie das fundamentale Recht auf freie Kommunikation und Versammlung abzuschneiden vermag. Der Umfang der Überwachung ist gewaltig.“

bis 2. Februar, Haus der Kulturen der Welt, www.transmediale.de

Jens Hinrichsen

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false